Grünen-Spitzenkandidat:"Wir haben die großen Schicksalsfragen im Blick"

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Große Ambitionen: Cem Özdemir, hier mit Blumensträußen für die grünen Spitzenkandidaten der Abgeordnetenhauswahl in Berlin. (Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa)

Cem Özdemir erklärt, wie er seine strauchelnde Partei für die Wahl rüsten will - und was man von Donald Trump lernen kann.

Interview von Stefan Braun

SZ: Herr Özdemir, vor sechs Monaten zwölf Prozent, heute um die sieben: Warum sind die Grünen nicht en vogue?

Cem Özdemir: Wenn die Umfragen schlecht sind, muss man kämpfen. Unser Ziel bleibt: Wir wollen das beste Ergebnis unserer Geschichte holen. Also mehr bekommen als die 10,7 Prozent, die wir 2009 erreicht haben. Jetzt liegt es an uns, auch diejenigen zu gewinnen, die noch nie grün gewählt haben, es sich aber vorstellen können. Und wenn diese Leute nicht zu uns kommen, müssen wir zu ihnen.

Was soll das heißen?

Das heißt, durchs Land zu fahren, an Haustüren zu klingeln, zu Gesprächen einladen, auf Plätzen sein, mit den Menschen reden. Deutschlandreise, auch in Unternehmen. Zuhören und erklären, was wir für die Menschen tun wollen.

Das beantwortet nicht die Frage, warum es so mau aussieht für die Grünen.

Auch wenn uns der aktuelle Zwischenstand nicht gefallen kann - es ist doch spannend, wenn jetzt etwas in Bewegung ist. Bis zum Herbst kann viel passieren. Im Übrigen gibt es erste kleine Frühlingszeichen, auch in den Umfragen. Es wird in diesem Wahlkampf noch eine deutliche Zuspitzung und mehr Kampflust geben.

Union gegen SPD, Merkel gegen Schulz - das ist jetzt die Zuspitzung. Gehen Sie zwischen den Elefanten unter?

Wenn sich vieles auf den Kampf ums Kanzleramt fokussiert, wird es für die kleineren Parteien schwerer. Wir müssen kreativer, mutiger, vielleicht auch mal lauter werden, ohne dabei schrill zu klingen.

Halten Sie zu beiden dieselbe Distanz?

Wir müssen für unsere Ziele kämpfen. Martin Schulz hat zum Umwelt- und zum Klimaschutz bislang genauso wenig gesagt wie Angela Merkel. Gleichwohl haben wir nie erklärt, dass uns alle gleich lieb seien. Wir haben immer gesagt, dass uns, wenn wir die Programme nebeneinander legen, die SPD näher ist als die Union. Das steht außer Frage. Auf der anderen Seite müssen alle demokratischen Parteien in der Lage sein zusammenzuarbeiten. Heute weiß niemand, wie die Wahl ausgeht. Und ich bin strikt dagegen, so lange wählen zu lassen, bis uns das Ergebnis passt.

Schulz weckt Lust auf das Neue. Wirken Sie und Ihre Ko-Spitzenkandidatin da zu altbacken?

Man kann es konkret machen: Robert Habeck ist ein riesiges Talent. Und er wäre sicher ein guter Spitzenkandidat gewesen. Aber ich wette mit Ihnen: Wenn er jetzt hier sitzen würde, dann würden Sie fragen: Wäre Özdemir nicht der bessere, weil er einer der bekanntesten Oppositionspolitiker ist? Die Gründe liegen tiefer. Ich kann Bedenken und Unmut über die Umfragen verstehen, mir passen sie auch nicht. Daraus kann es nur eine Lehre geben: Wir müssen deutlich machen, was auf dem Spiel steht, und das geschlossen.

Stehen die Grünen auf dem Spiel?

Nein, sicher nicht. Auf dem Spiel steht, ob unsere Umwelt, unser Klima, gesunde Lebensmittel und eine moderne Mobilität in der Politik den Stellenwert bekommen, den sie haben müssen, damit wir diese Welt heil und gesund und friedlich an unsere Kinder übergeben können. Das sind Schicksalsfragen, und ich bin sicher, sehr viele Menschen wissen das genau.

Um was geht es den Grünen?

Das alles Entscheidende ist: Wie schaffen wir es, Deutschland so zu modernisieren, dass es stark und gesund bleibt. Wie also gelingt es, dass Ökonomie und Ökologie nicht nur kein Gegensatz sind, sondern in Kombination die Grundlage für den Erfolg werden. Im Ringen um eine neue Mobilität, ein modernes System von Elektroautos, Zügen, Bussen darf nicht China entscheiden, ob Stuttgart, Ingolstadt, Wolfsburg das Detroit von Deutschland werden, also der verarmende Rust Belt eines Landes, das es verschlafen hat, seine wichtigste Industrie - die Autoindustrie - auf neue Antriebe und Techniken umzustellen.

E-Mobilität als Wahlkampfschlager?

Elektromobilität ist kein Randthema der Grünen. Sie ist für dieses Land eine Schicksalsfrage. Die Welt dreht sich, sie dreht sich zum Beispiel in China dramatisch. Einem Land, das Autos liebt und viele Autos kauft, aber an der schlechten Luft fast erstickt. Deshalb treiben dort Bürgermeister von Millionenstädten den Kauf von Elektroautos voran, die wir nicht liefern können. Wir müssen also schneller sein, uns darauf vorbereiten. Doch die Bundesregierung tut so, als ob wir den jetzigen Zustand konservieren könnten. Beliebig lange. Weil es halt grad so schön ist. Wir haben aber keine Zeit. Niemand wartet auf uns. Der Konkurrenzkampf wird härter.

Also verbieten die Grünen mal wieder was und vergrätzen die Leute?

Im Gegenteil. Wer künftig noch mit Autos in die großen Städte fahren will, muss auf die Grünen und das E-Auto setzen. Es sind SPD, Union und FDP, die mit ihrer Sentimentalität und dem viel zu langen Festhalten am Verbrennungsmotor vieles in Gefahr bringen. Fahrverbote sind genau das, was die Grünen verhindern wollen. Wir stellen die alte Frage, nur neu: Wie komme ich von A nach B, möglichst komfortabel, bezahlbar, schnell - und nachhaltig, also ohne uns dabei krank zu machen oder unsere Welt zu zerstören.

Was haben die Grünen noch zu bieten?

Wir müssen bei der Digitalisierung ganz anders vorangehen. Das ist kein Seitenaspekt mehr. Es durchdringt unser ganzes Leben und macht vielen Menschen Angst. Industrie, Handwerk, Senioren, Schulen - alle müssen dafür ausgebildet werden. Wir brauchen ein Volksbildungsprogramm; wir können nicht mehr so tun, als kommt das von selbst. Schulen, Volkshochschulen, Handwerkskammern, Betriebe, Unis - überall müssen wir die Menschen fit machen. Wir Grüne schlagen vor, dafür die Telekom-Aktien des Bundes zu verkaufen und mit den Milliardenerlösen genau das zu tun, inklusive Breitbandausbau. Und damit das aus einer Hand organisiert wird, brauchen wir ein Digital-Ministerium. Derzeit kümmern sich zu viele Ressorts darum - und behindern sich gegenseitig. Das ist Steinzeit.

Cem Özdemir will die Grünen eben doch zur Wirtschaftspartei umbauen.

Alle Parteien müssen sich um die Wirtschaft kümmern. Schließlich geht es um unseren Wohlstand und um Arbeitsplätze. Wir haben aber die großen Schicksalsfragen im Blick: Umwelt, Klima, Autoindustrie, Digitalisierung. Viele Menschen haben Angst vor der großen Veränderung. Die Mitarbeiter in den Autofabriken. Menschen, für die das Internet und die Digitalisierung noch immer bedrohlich wirken. Oder unzugänglich. Und das sind nicht nur ältere. Man kann sich über Donald Trump wahnsinnig aufregen oder über ihn Witze machen. Eines lehrt er uns: dass wir es nicht mehr ignorieren dürfen, wenn Menschen sich von Entwicklungen überrollt oder abgehängt fühlen. Wir müssen das ernst nehmen.

© SZ vom 04.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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