Große Koalition:Zwei Typen und ein heißer Ofen

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Löschen, eindämmen, entschärfen: Volker Kauder und Peter Struck als Feuerwehrmänner der Koalition aus Union und SPD. Im Moment ist ihr Einsatz besonders gefragt

Stefan Klein

Es ist ein harter Job, das sieht man sofort. Volker Kauder rutscht auf seinem Sessel in der ersten Reihe der CDU/CSU-Fraktion vor und zurück. Vor und zurück. Er hält inne, greift sich eine Zeitung und liest. Er legt sie wieder weg, dreht sich, redet nach hinten, dreht sich wieder nach vorne. Er schlägt eine Mappe auf. Er guckt auf die Uhr. Er zieht die Schublade unter seinem Pult auf, holt das Abgeordneten-Verzeichnis heraus und blättert darin. Am Rednerpult redet ein Sozi. Kauder klatscht. Kauder greift sich ans Revers und zieht sein Jackett stramm.

Jetzt macht am Rednerpult der Fraktionsvorsitzende der FDP gewaltig Männchen. Kauders Finger trommeln aufs Pult, nun verknoten sie sich ineinander. Der Innenminister fährt bei Kauder vor. Kauder neigt sein Ohr, dann steht er auf und setzt sich mit zwei Fraktionskollegen in eine der hinteren Reihen.

Ebenfalls in der ersten Reihe ein Stück weiter links, vom Rednerpult aus gesehen, sitzt ein anderer Herr, der hat genauso viel zu tun. Nur sieht bei Peter Struck alles so aus, als habe man ihn auf halbe Geschwindigkeit gesetzt. Er bewegt sich langsamer, er rutscht auf seinem Stuhl bedächtiger vor und zurück, seine Finger kennen kein Trommeln. Struck klatscht auch gemessener. Andante hier, allegro da. Macht aber nichts. Irgendwie geht es zusammen.

Talent zum Basarhändler

Große Koalition, das ist ein bisschen, als hätte man die Mannschaften von Werder Bremen und Bayern München zusammengeschirrt. Jahrelang wurde erbittert um die Vorherrschaft gekämpft, und nun soll man sich plötzlich gegenseitig Vorlagen geben und gemeinsam Tore schießen.

Das ist nicht leicht. Auf der Vorstandsetage sind zwei, die plinkern sich manchmal freundlich an, aber dann hält der eine, wie am Freitag geschehen, erbost eine Pressekonferenz. Auch die Mannschaften tun sich schwer, und deshalb haben die beiden Trainer Volker Kauder und Peter Struck in diesen Tagen tatsächlich sehr viel Arbeit zu verrichten, auch wenn es von der Pressetribüne des Reichstags nicht unbedingt so aussieht.

Kein Gesetzesvorhaben, das unumstritten wäre. Ist etwas der einen Truppe ein Herzensanliegen, dann kann man darauf wetten, dass es der anderen an die Nieren geht. Irgendwo glimmt es immer, und dass daraus kein Brand wird, ist die Hauptaufgabe der Feuerwehrleute Kauder und Struck.

Löschen, ausblasen, eindämmen, wegreden, entschärfen, zusammenhalten, Wogen glätten, Kompromisse finden - es ist nicht eben wenig, was einer können muss in diesem Job. Er muss Basarhändler sein, Schlichter, Krisenmanager, und ein Talent zum Gärtnern von Kindern ist ebenfalls nicht schädlich, auch wenn es sich in Wahrheit natürlich um ehrenwerte Volksvertreter handelt. Struck hat 222 davon in seinem Laden, Kauder sogar noch vier mehr.

Es ist ein tückisches Terrain, das einlädt zum Intrigieren und Täuschen, doch dieser Versuchung haben sich die beiden Herren gleich zu Beginn ihrer Zusammenarbeit mit einem Versprechen entzogen. Was der Badener Kauder versäckeln nennt, nennt der Norddeutsche Struck bescheißen, und als diese semantischen Feinheiten geklärt waren, haben sie miteinander verabredet, dass es dergleichen nicht geben wird zwischen ihnen, solange sie die Fraktionen der großen Koalition führen. Bislang haben sie sich daran gehalten.

Mehr noch: Es scheint, als hätten da zwei tatsächlich über alles Trennende hinweg einen Draht zueinander gefunden. Man habe, sagt Kauder, "eine Sympathie füreinander." Struck sagt: "Ich mag Kauder, ja, ich mag seine Art." Die darf auch ruhig rustikal sein, denn der Genosse schätzt die klare Ansage, und wenn man ihn fragt, was er sonst noch schätzt am Kollegen Christdemokrat, dann fällt genau das Wort, das diesem als erstes auch zu Struck einfällt: Verlässlichkeit.

Das ist kein geringer Wert im täglichen Gezerre, sei es um Hartz IV, sei es um das Antidiskriminierungsgesetz. Letzteres ist ein Ding aus der rot-grünen Konkursmasse und bei den Christdemokraten so verhasst, dass es als Beispiel für sozialistische Regulierungswut in jeder Wahlkampfrede vorkam. Dass dies, leicht modifiziert, nun gemeinsam verabschiedet werden soll, stößt den Christdemokraten landauf, landab übel auf. Auch in der Fraktion wurde gemurrt.

Her mit den Notinstrumenten

Für Kauder war das ein erster Härtetest, der ihm umso schwerer fiel, als er das Vorhaben letztes Jahr noch selber heftig gegeißelt hatte. Und als er dann vor den aufgebrachten Fraktionskollegen stand, da sah er den Platz hinten links, auf dem er viele Jahre gesessen hatte und wusste, was in ihm vorgehen würde, wenn es immer noch seiner wäre: Was haben die denn da gemacht, würde er denken - "und das wäre noch eine freundliche Reaktion."

Trotzdem hat Struck dieser Tage vor seiner Fraktion verkündet, dass das Gesetz noch vor der Sommerpause verabschiedet werden wird, weil Kauder ihm das fest zugesagt hat.

Verlässlichkeit eben, und wenn doch mal der ungute Satz fällt: "Das ist mit meinen Leuten nicht zu machen", dann müssen eben die Notinstrumente her: Verschieben, ausklammern. Oder schachern: Vielleicht geht es doch, wenn wir euch in einem anderen Punkt entgegenkommen. Und wenn wirklich mal eine Kollision droht, dann gibt es immer noch das Geschäftsordnungsmanöver, mit dem sich verhindern lässt, dass Dissonanzen allzu offenkundig werden. So jedenfalls war es bei der Föderalismusreform.

Da gab es einen Punkt, der die SPD-Fraktion in Wallung brachte. Struck nahm die Bedenken auf und ging zu Kauder, um ihm zu sagen, dass er das in einer Bundestagsrede auch zum Ausdruck bringen werde. Kauder ließ daraufhin die Redefolge so festlegen, dass er vor Struck sprechen würde - um nicht in die Verlegenheit zu kommen, ihn kritisch angehen zu müssen.

Unter vier Augen, als "Freunde der klaren Aussprache" (Struck), sagen sie sich alles, aber nach außen hin tun sie möglichst nichts, was das gemeinsame Projekt gefährden könnte. Dem nämlich fühlen sie sich verpflichtet. Wer im Parlament 73 Prozent der Mandate und darüber hinaus auch noch die Mehrheit im Bundesrat besitze, der dürfe einfach nicht scheitern, sagt Struck. Anderenfalls würden sich die Menschen "zu Recht mit Grausen abwenden" von Politik und Demokratie, und die Folge könne nur ein Zuwachs an den rechten und den linken Rändern sein. Kauder sagt es fast wörtlich genauso.

Eppler und Benda

Oder sind das schon Erhard Eppler und Ernst Benda, die da sprechen? Eppler? Benda? Zwei alte Männer, der eine im Badischen, der andere im Schwäbischen. Stille Straßen, Flieder, Vogelgezwitscher, und die Politik ist weit. Eppler finden wir im Garten vor, beim Unkrautjäten. Im Dezember wird er achtzig. Benda ist schon über achtzig und hat doch noch immer das frühe Benda-Gesicht, ein bisschen streng. Was derzeit in Berlin gegeben wird, haben diese beiden vor vierzig Jahren in Bonn gespielt, große Koalition.

Es war die Zeit des Plisch und des Plum, und wenn Kanzler Kiesinger Plum Strauß im Kabinett das Wort erteilte, dann schaute Plisch Schiller auf die Uhr, weil er es sich in seiner Eitelkeit zur Regel gemacht hatte, anschließend immer fünf Minuten länger zu reden. Eppler, seinerzeit Entwicklungsminister, erzählt die Geschichte mit mildem Spott, und anderes wäre auch nicht angebracht, denn Plisch und Plum waren eine Erfolgsnummer. Sie brachten die Wirtschaftskrise unter Kontrolle und die Staatsfinanzen in Ordnung.

Es gab jedoch noch zwei andere Aktivposten in dieser ersten deutschen Großkoalition, und das ist der eigentliche Grund, warum wir uns in die südwestdeutsche Provinz aufgemacht haben. Es waren dies Helmut Schmidt und Rainer Barzel, die beiden Fraktionsvorsitzenden. "Einer der entscheidenden Faktoren" sei dieses Duo gewesen, sagt der damalige Innenminister Benda, sie hätten harmoniert und genau gewusst, dass ein Scheitern wahrscheinlich der NPD zugute gekommen wäre.

Beide, sagt Eppler, hätten es verstanden, ihre Fraktionen mitzuziehen und einen Arbeitsstil zu finden, der "auch schwierige Themen verhandelbar gemacht" habe. Barzel ist sehr krank, und auch Schmidt ist gesundheitlich angeschlagen, aber als es ihnen noch besser ging, da haben Kauder und Struck ihre Altvorderen aufgesucht, jeder den seinen. Denn ihr Job hat Seltenheitswert, es gibt keine Arbeitsanleitung, es gibt nur ein Vorbild.

Folgender Satz, Herr Struck: "Die Zusammenarbeit ist fair und zuverlässig, die Arbeitsweise direkt, sehr schnell, unkompliziert, immer offen und manchmal sehr hart." Wer hat ihn gesprochen? "Das hat Kauder über unsere Zusammenarbeit gesagt." "Falsch. Das hat Rainer Barzel über seine Zusammenarbeit mit Schmidt gesagt."

Struck lacht und sagt, er würde sich den Satz aber durchaus zu eigen machen, und zwar als Beschreibung seines Verhältnisses zu Kauder. Kleine Echos aus der Bonner Republik, und auch die derzeitigen Gereiztheiten zwischen den Partnern entsprechen durchaus den Mustern der sechziger Jahre.

Allerdings sind heute die Aufgaben ungleich größer. Der Konjunktureinbruch damals mit ein paar hunderttausend Arbeitslosen sei nur ein kleiner Schatten über "glücklichen Zeiten" gewesen, sagt Eppler, und bei allen Schwierigkeiten einschließlich der Notstandsgesetzgebung - ein "so vertracktes Problem" wie die Gesundheitsreform im Minenfeld zwischen Ärztelobby und Pharmaindustrie habe es nicht gegeben. Was da bevorsteht, ist in der Tat von so ungewöhnlichem Kaliber, dass besonnene Männer wie Kauder und Struck reden, als ginge es in den Krieg.

Ein paar kleine Rempeleien

Von "Drohpotenzialen" spricht Struck, von Pfründen, die "mit Zähnen und Klauen" verteidigt würden, und dass sich die Koalitionspartner unterhaken und standhaft sein müssten. Kauder sagt, an der Gesundheitsreform werde sich die Handlungsfähigkeit der großen Koalition erweisen und fügt beschwörend hinzu: "Wir werden das hinkriegen. Wir müssen das hinkriegen." Ihren Beitrag werden sie leisten, davon kann man ausgehen. Nicht, dass sie inzwischen die besten Kumpels wären. Sie duzen sich, mögen sich, aber Freunde sind sie nicht.

Struck sagt ganz offen, so lieb wie einst die Grünen Rezzo Schlauch und Kerstin Müller sei ihm Kauder bislang nicht, "aber das kann ja noch werden". Auch hat er die Linken in seiner Fraktion ausdrücklich ermuntert, mit dem Ex-Partner Kontakt zu halten. Abgrenzung muss sein, und auch ein bisschen Herablassung gönnt Struck sich gelegentlich, etwa wenn er mit der Miene des besorgten Diagnostikers anmerkt, die Union tue sich ja doch sehr viel schwerer mit dem Regieren als die SPD, sie habe sieben Jahre Opposition hinter sich, und das merke man ihr schon an.

Kauder revanchiert sich auf seine Weise. Neulich im Koalitionsausschuss, Diskussion über das Weißbuch der Bundeswehr. Kauder: "Ich kann mit dem Begriff der Landesverteidigung, wie er da steht, gut leben." Struck: "Ich nicht." Kauder: "Das finde ich schön, Kollege Struck, dass wir uns da einig sind." Struck: "Ich hab' doch gerade gesagt, dass ich nicht damit leben kann." Kauder: "Ich wollte nur testen, ob du auch bei der Sache bist." Eine kleine Stichelei, und kurz danach rempelten sie sich auch noch etwas heftiger an. Inzwischen, heißt es, herrsche aber wieder Frieden.

Wenn sich wirklich mal einer unangenehm berührt fühlt, dann kommt der Anlass eher von außen. Als die Bild-Zeitung von "Schauder-Kauder" schrieb, da ging das Volker Kauder an die Ehre. Struck hatte ein Gespür dafür. Er rief Kauder an und sagte, er solle das nicht so ernst nehmen - "und das hat ihn, glaube ich, schon getröstet."

Dass es menschlich stimmt zwischen beiden, hält Kauder für entscheidend. Er sagt: "Koalitionen zerbrechen nie an Sachfragen, da findet man immer einen Weg. Sie zerbrechen dann, wenn die führenden Leute nicht mehr miteinander können." Ein Streit zwischen zwei Ministern sei kein Unglück, aber einer zwischen den beiden Fraktionsvorsitzenden, die dann womöglich auch noch ihre Fraktionen in Stellung zu bringen versuchten - das sei das Ende.

Solche Unterschiede mögen in der nie versiegenden Flut von Meldungen über Zank und Hader theoretisch erscheinen, tatsächlich jedoch ist die Feinmechanik der großen Koalition offenbar feiner als es den Anschein hat. Struck sagt, jeder müsse wissen, was er der anderen Seite zumuten kann, und das sei auch der Fall: "Man weiß, welches beim Partner die Bereiche sind, an die man wirklich nicht rangehen kann."

Oder ist das jetzt eine Verlautbarung aus der Abteilung Propaganda und Legende? Denn natürlich gehört auch die zum täglichen Geschäft, was man schon daran erkennen kann, wie sich beide die bisherige Bilanz der Regierung schön reden. Trippelschritte? Nein, es laufe doch prima. Der Ton schärfer, das Klima rauer? Nö, eigentlich sei es "normale Betriebstemperatur," sagt Struck.

Der Motor drehe halt "etwas schneller", sagt Kauder, und dann werde auch ein guter Sechszylinder "etwas lauter." Aber das vertrauensvolle Zusammenspiel zwischen Kauder und Struck ist keine Propaganda, und es strahlt sogar aus, wie es das von Barzel und Schmidt seinerzeit auch getan hat. Ernst Benda weiß noch, wie überrascht er war, als sich der Sozifeind, von dem man doch wusste, dass er auf den Untergang Deutschlands hinarbeitete, plötzlich als ganz anders entpuppte- als ruhig, freundlich, höflich und irgendwie sogar vernünftig.

Und heute? Da begegnet man dem CDU-Abgeordneten Wolfgang Bosbach, der als Stellvertreter Kauders schon mal den Rottweiler mimen darf, und hört ihn von Struck schwärmen, weil der "ein Typ" sei, kantig, knurrig, anständig, einer von der Art, wie sie leider immer seltener würden. Und dann sitzt man mit dem SPD-Linken Otmar Schreiner zusammen, von dem man vieles vermutet hätte, nur nicht, dass er heimliche Sympathien für Volker Kauder hat. Stimmt aber.

Offen sei der, sagt Schreiner, unkompliziert, und seit der Zeit, als sie zusammen im Sozialausschuss saßen, wisse er, dass Kauder eine soziale Ader besitze und kein Scharfmacher sei. Er, Schreiner, möge den "als Typen." Zwei Typen also, und daraus lässt sich schon fast ein Westerntitel machen. Oder der eines Roadmovies. Zwei Typen und ein heißer Ofen, oder so ähnlich.

Rockermäßig unterwegs

Irgendwann im Sommer wird es passieren, und es wird, objektiv betrachtet, eine ziemlich unmögliche Veranstaltung werden. Was hat einer wie Struck, der schon zwei Herzinfarkte und einen Schlaganfall hinter sich hat, auf einem schnellen Motorrad verloren? Und warum muss der andere auf dem Sozius sitzen, auch wenn er das in Wahrheit überhaupt nicht toll findet?

Eine Anregung von Schmidt und Barzel kann es nicht gewesen sein, die hätten so etwas nicht gemacht. Eine Jolle auf dem Brahmsee, allenfalls, aber doch nicht rockermäßig durch die Landschaft brettern. Schmidt und Barzel wollten Kanzler werden, und der eine ist es ja auch geworden, ihre Nachfolger haben bescheidenere Ziele. Struck ist 63, er war schon Minister, ist zum zweiten Mal Fraktionsvorsitzender, er muss nichts mehr beweisen. Er hat fünf Enkel und ist gewiss ein guter Opa.

Kauder ist 56, seine Lage ist etwas anders. Der von ihm als Generalsekretär organisierte Bundestagswahlkampf der CDU wäre um ein Haar im Desaster geendet, er steht gewissermaßen in der Bewährung. Wenn er "des isch" oder "felsenfeschte Überzeugung" sagt, dann meint man den stellvertretenden Landrat von Tuttlingen, der er mal war, noch herauszuhören.

Er war dreißig damals, er konnte seine Experimente machen, manches ging gehörig daneben, und der Landrat hat es dann geräuschlos eingesammelt. Lange her, wie gesagt, von nun an soll' s nur noch voran gehen, Kauder will Minister werden.

Aber dafür muss er den Ausflug überstehen, zu dem ihn der leidenschaftliche Motorradfahrer Struck eingeladen hat. Ganz wohl ist Kauder nicht dabei. Struck sei schließlich "schon einige Male umgefallen, so ist es ja nicht." Trotzdem: Er wird hinter Struck auf dem Motorrad sitzen, mit Todesverachtung.

© SZ vom 6.6.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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