Großbritannien unter Schock:Die Stationen des Schreckens

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Seit Jahren hat man den großen Anschlag erwartet, die Bomben treffen die Metropole dennoch an ihrer verletzlichsten Stelle. Doch trotz des Schreckens versuchen viele Menschen, die sprichwörtliche britische Ruhe und Höflichkeit zu bewahren.

Von Wolfgang Koydl und Raphael Honigstein

Trüb hängt der Himmel an diesem Donnerstagmorgen über London. Ein leichter Nieselregen fällt aus den grauen Wolkenmassen, die sich aufgetürmt hatten, und ein unangenehmer Wind lässt die sommerlich gekleideten Pendler frösteln, als sie zu den U-Bahnhöfen und Bushaltestellen strömen.

Verletzte verlassen eine U-Bahn-Station. (Foto: Foto: AP)

Doch das Wetter verdirbt niemandem die Laune. Zum einen ist man in London an kühle Sommer gewöhnt, und zum anderen soll dieser Tag ein Freudentag werden.

Keine 24 Stunden ist es her, da hatten die Londoner erfahren, dass ihre Stadt in sieben Jahren die Olympischen Spiele ausrichten darf, und die Menschen hier freuen sich darauf, in den Büros die gute Nachricht mit den Kollegen ausgiebig zu diskutieren.

Viele lesen wohl gerade auf dem Weg zur Arbeit die glückseligen Olympia-Sonderberichte in den Zeitungen, als die Euphorie urplötzlich und ohne Vorwarnung in blutigen Horror und Schrecken umschlägt. Um 8.51 Uhr Londoner Zeit detoniert der erste Sprengkörper in einer U-Bahn.

Europas größte Metropole soll in die Knie gezwungen werden

Binnen Stundenfrist verwandeln weitere Explosionen das Zentrum der britischen Hauptstadt in ein Schlachtfeld und legen die Millionenmetropole lahm. Betroffen sind ein U-Bahnzug zwischen den Stationen Aldgate East und Liverpoolstreet Station sowie ein anderer zwischen Russel Square und King's Cross.

Auch an der U-Bahn-Station Edgware Road explodiert ein Sprengsatz - es sind einige der belebtesten und wichtigsten Knotenpunkte im Londoner Nahverkehrsnetz, die ausgeschaltet werden. Wahrscheinlich, so mutmaßen Anti-Terror-Experten, sei es das Ziel der Terroristen gewesen, Europas größte Metropole in die Knie zu zwingen.

Der letzte Sprengsatz detoniert um 10.14 Uhr und zerfetzt die obere Etage eines der roten Doppeldeckerbusse. "Wie eine Sardinenbüchse" sei das Fahrzeug aufgerissen worden, berichtet ein Augenzeuge der BBC. Überall habe er leblose Körper auf der Straße liegen sehen.

Der Ort des Anschlages ist nach der Logik der Attentäter gut gewählt: Am Tavistock Square liegen viele Touristenhotels, die vor allem von Amerikanern bevorzugt werden.

Fassungslos verfolgen die Menschen im Fernsehen dieselben Schreckensbilder, wie man sie schon aus New York kannte oder aus Madrid: Wie Flüchtlinge in einem Kriegsgebiet wanken die Pendler aus den Schächten der U-Bahn ans Tageslicht.

Als die Lichter erlöschen

Blutverschmiert sind die Gesichter, manche Menschen sind notdürftig bandagiert, andere in Decken eingehüllt, die meisten versuchen mit Handys Freunde und Verwandte anzurufen - meist vergeblich, denn das Netz ist schnell überlastet.

Die City, der Finanzbezirk der Stadt, wird abgesperrt und von Rettungsmannschaften übernommen, die mit ihren grellgelben, orangefarbenen und roten Westen und Overalls einen drastischen Kontrast zu den Männern in den grauen Straßenzügen abgeben.

Vor den U-Bahn-Stationen werden rasch Zelte aufgebaut, in denen die Verletzten notdürftig versorgt werden können, bevor sie in die Krankenhäuser transportiert werden, die im Rahmen eines Notstandsplanes alle Operationssäle für Opfer des Anschlages freimachen.

Und überall improvisieren die Leute, um den Verletzten zu helfen. Aus einem Hotel tragen die Angestellten Tische auf die Straße - als Behelfstragen für jene, die so schwer verletzt sind, dass sie nicht mehr laufen können.

Doch trotz des Schreckens versuchen viele Menschen, die sprichwörtliche britische Ruhe und Höflichkeit zu bewahren: "Es tut mir außerordentlich leid, aber ich habe tatsächlich keine sehr gute Erinnerung an das, was sich wirklich zutrug", formuliert es ein Mann druckreif für die Kameras des Fernsehens.

Er lächelt sogar

Ja, er ringt sich sogar ein bedauerndes Lächeln ab, dass er - so sorry - nicht mehr sagen könne.

Ja, er habe einen lauten Knall gehört, dann seien die Lichter im Zug ausgegangen, und der ganze Wagen habe sich mit Rauch gefüllt. Das perfekte Auftreten des Augenzeugen freilich steht in bizarrem Widerspruch zu seinem Aussehen: Die linke Gesichtshälfte ist mit Blut verschmiert, der Hemdkragen trieft von Blut.

Anderen freilich frisst sich der Terror ins Gedächtnis: "Es knallte, und dann war überall Glas", erinnert sich Maren Stefanski, die in der U-Bahn saß, als die Bombe hochging. "Die Splitter trafen mich am Rücken. Wir konnten nicht atmen. Als ich durch den zweiten Waggon ging, konnte ich überall Leichen sehen."

Auch Loyita Worley, die für eine Anwaltskanzlei arbeitet, erinnert sich vor allem an Rauch: "Alle husteten und würgten, und wir konnten die Türen des Waggons nicht öffnen." Sie berichtet auch, dass sie Leute gesehen habe, denen von der Wucht der Detonation die Kleider vom Leib gerissen worden seien.

Nicht ganz so schlimm sieht es an der U-Bahn-Station Edgware Road am westlichen Ende der Innenstadt aus. Ein schwarzes Gitter verschließt den Eingang. Von außen ist an dem roten Ziegelbau, dem zwischen Hochhäusern eingequetschten Überbleibsel aus viktorianischen Zeiten, nichts Außergewöhnliches zu erkennen.

Stationen der tube sind ja öfters geschlossen, mal streikt die Gewerkschaft der Fahrer, mal die der Angestellten, gerne ist ein Signal defekt.

Seltsame Stille

Auch diesmal ging zuerst das Gerücht um, ein Zusammenbruch der Stromleitung in Aldgate hätte den Knall verursacht. Doch schnell erfahren die Menschen, dass es heute anders ist.

Es ist still, seltsam still. Vor dem Great-Western-Pub steht eine Menschenmenge um ein Auto herum, aus dem laut die Nachrichten kommen. Niemand sagt etwas. David Avivi, ein Holländer, arbeitet als Finanzberater im Gebäude gegenüber.

Leichte Ziele: Pendler auf dem Weg zur Arbeit. (Foto: Foto: dpa)

"Wir sahen die Verletzten aus der U-Bahn kommen. Viele hatten Schnittwunden", sagt er mit bleichem Gesicht, "es kam die Durchsage, dass wir von den Fenstern wegbleiben sollen, dann wurden wir weggebracht." Er zeigt auf einen Marks&Spencer-Laden, in dem die Verletzten notdürftig versorgt wurden.

Versicherungsvertreter Travis Banko wurde im gegenüberliegenden Hilton-Hotel behandelt. Bis auf ein paar kleine Brandwunden im Gesicht ist ihm nichts passiert. Sein gelbes Hemd ist unbefleckt. Der 24-jährige Australier saß gegen 8.45 Uhr im ersten Wagen des Zugs, der die Haltestelle Edgware Road Richtung Westen verließ.

"Nach 200, 300 Metern gab es im Tunnel, im zweiten Wagen, eine gewaltige Explosion", erzählt er, "es regnete Glassplitter. Dann saßen wir fünf Minuten im Dunkeln und versuchten, den Rauch nicht einzuatmen. Die Leute waren in Panik. Es dauerte ein bisschen, bis man realisierte, dass man noch alle Körperteile beisammen hatte."

Seine Familie hat ihn im Fernsehen gesehen

Mitarbeiter von "London Transport" führten die Passagiere schließlich über die Gleise zurück zur Station und an die Oberfläche. Was den Leuten im zweiten Waggon passiert ist, weiß Banko nicht. Sein Telefon klingelt. Jemand aus der Familie hat ihn im Fernsehen gesehen.

Ausgerechnet Edgware Road. Little Beirut nennen die Londoner die Gegend hier, weil zahlreiche libanesische Restaurants die Straße säumen und viele Frauen verschleiert sind. Die Lebensmittelläden haben das Wort "Halal" auf den Markisen stehen, weil sie sich an die muslimischen Speisegesetze halten.

Quaisar, ein junger Araber, verkauft rituell geschlachtetes Fleisch und ist ein bisschen mißtrauisch. Auch er kann es nicht glauben. Angst vor negativen Reaktionen habe er keine. "Aber ich werde wohl in Zukunft öfters meinen Ausweis zeigen müssen."

"Ich bin aus New Jersey, meine Eltern arbeiten in New York", sagt Sean Baren, der 25 Jahre alt ist. Man kann da Stolz heraushören. Der Praktikant in einer Bank saß in einem Bus, als er an der Edgware Road plötzlich lauter blutende Menschen mit grauen Gesichtern erblickte.

Erste-Hilfe gelernt, wegen dem 11.September

Baren, ein junger Mann mit roten Haaren und breitem Oberkörper stieg aus und meldete sich bei einem der Nothelfer als Freiwilliger. Er hat einen Erste-Hilfe-Kurs absolviert, "wegen des 11. Septembers".

Baren behandelte 60 leicht verletzte Männer und Frauen in der Hilton-Lobby. Jemand hat ihm erzählt, dass ein Mann aus dem Zug geschleudert wurde und unter den Rädern des entgegenkommenden Zuges eingeklemmt wurde.

Es ist Mittag. Die meisten Geschäfte sind geschlossen. Vor dem "Great Western" sitzt eine blonde Frau im grauen Anzug und blickt ins Leere. Sie wartet darauf, dass der Bahnhof in Paddington wieder aufmacht, denn sie ist nicht aus London.

Sie bekommt den Rat, sich lieber ein Hotelzimmer zu suchen. Auch Chris Fry hat Probleme, nach Hause zu kommen. Der Ingenieur aus dem südlichen Vorort Reading saß in der Piccadilly Line, als die Bombe hochging. Sein Wagen war nicht direkt betroffen, aber man kann den Rauch noch an seinen Kleidern riechen.

"Und morgen nehme ich mir frei"

Seine Nasenlöcher sind schwarz und verklebt. Fry sagt, er sei ziemlich durchgeschüttelt, reagiert dabei aber so, wie man es sich von einem Briten vorstellt: "Mein Büro ist am Russell Square, dort wo der Bus hochgegangen ist", sagt er. "Fast wäre ich also zwei Mal explodiert." Auf den Schreck geht er erstmal einen trinken.

"Und morgen nehme ich mir frei." Um ihn herum stolpern die Menschen, stumm und in Gedanken versunken, die Straßen hinab, unter denen an normalen Tagen die U-Bahn fährt. "Sagen Sie den Leuten bitte, dass sie nach Hause gehen und auf keinen Fall in die Innenstadt kommen sollen", sagt ein Feuerwehrmann einer Radioreporterin. "Der Tag ist vorbei."

Vergessen sind die spontanen Freudenausbrüche vom Vortag, als Zehntausende auf dem Trafalgar Square die Nachricht von der Olympia-Vergabe mit Champagner und Samba ausgelassen feierten. Jetzt irren Zehntausende durch die Londoner Innenstadt, ohne zu wissen, wohin sie sich wenden sollen.

Die Olympia-Kandidaten: Eine Terrorliste

Am Tag nach dem Freudenfest dämmert nun aber auch die grauenvolle Erkenntnis herauf, dass sich - mit Ausnahme von Paris - die Liste der fünf bei der Endausscheidung in Singapur vertretenen Olympia-Kandidaten auch wie eine Aufzählung jener Städte liest, deren Leben vom Terror verändert wurde:

New York und das Welthandelszentrum, Madrid und die Vorortzüge, Moskau und die Geiselnahme im Theater - und nun auch London.

Bei den Spezialisten der Polizei, der Anti-Terror-Einheiten und auch unter den Politikern freilich ist niemand wirklich überrascht von den Anschlägen im Herzen der britischen Hauptstadt.

Es sei sein "größter Albtraum, der ihm nachts den Schlaf raubt", hatte Premierminister Tony Blair schon früher gesagt, dass Terroristen eines Tages auch seine Hauptstadt ins Visier nehmen würden. Auch Blair war sich im klaren darüber, was man bei der Anti-Terror-Abteilung von Scotland Yard deutlich aussprach: Es sei keine Frage, ob London von Terroristen attackiert werde, sondern nur wann dies der Fall sein werde.

Die Sicherheitsdienste sind denn auch einigermaßen gut auf den Ausnahmefall vorbereitet. "Das ist eine Situation, für die wir geplant haben und auf die wir eingestellt sind", versucht Sir Ian Blair, der Polizeichef von London, die Bevölkerung zu beruhigen.

Blairs Albträume

Er beschwört die Hauptstädter, Ruhe zu bewahren, nicht in die Stadt zu fahren, keine Gerüchte zu verbreiten. Doch ihn selbst hält es vor lauter Unruhe kaum auf dem Stuhl, auf dem er im Fernsehstudio der BBC Platz genommen hat. Der Interviewer hat ihn noch gar nicht verabschiedet, da ist Sir Ian vor laufender Kamera bereits aufgestanden und aus dem Bild gelaufen.

Wie tief der Schock bei der politischen Führung des Landes wirklich sitzt, das zeigt kurz darauf ein leichenblasser Premierminister, als er - für wenige Minuten nur - zum ersten Mal an diesem Tag vor die Presse tritt. Stark und entschlossen will Tony Blair wirken, doch manchmal versagt seine Stimme bei der kurzen Ansprache.

Unklar ist, ob aus Trauer oder aus Zorn. Derweil anderswo noch über die Urheber der Explosionen spekuliert wird, stehen für ihn die Schuldigen fest: "Es ist ziemlich klar, dass es sich um Terroranschläge handelt", erklärte er, und auch der Zeitpunkt dieser augenscheinlich von langer Hand geplanten und gut koordinierten Aktionen ist für ihn nicht überraschend:

Mit dem mörderischen Schlag solle der Auftakt des G-8-Gipfels im schottischen Gleneagles überschattet werden. Wenig später zeigt sich Blair noch einmal im Kreis der Gipfel-Teilnehmer und gibt eine Erklärung in aller Namen ab: "Das ist kein Angriff auf nur eine Nation", sagt er, "sondern auf alle Nationen und zivilisierten Menschen überall."

Perfides Timing

An der Entschlossenheit der Weltenlenker, den Kampf aufzunehmen, lässt er keinen Zweifel. Die G-8-Staaten seien vereint in ihrem Willen, "dem Terrorismus zu trotzen und ihn zu besiegen".

Eigentlich sollte das Treffen im schottischen Hochland für Blair den Höhepunkt einer außergewöhnlichen Erfolgssträhne markieren:

Der Mann, der die Europäische Union mutig zur Reform aufgefordert und der dann durch aufopfernden persönlichen Einsatz die Olympischen Spiele für London geholt hatte, wollte nun als Gastgeber der Mächtigen dieser Welt zwei weitere Marksteine setzen: Das Entschuldungsprogramm für Schwarzafrika, das ursprünglich eine Idee des britischen Regierungschefs gewesen war, soll in Gleneagles von den großen Industriestaaten abgesegnet werden.

Außerdem hat er sich Hoffnungen gemacht, den widerstrebenden US-Präsidenten doch für eine Wende in der amerikanischen Klima-Politik zu gewinnen. Doch obschon Blair trotzig betonte, dass das Treffen wie geplant fortgesetzt werde, haben die Terroristen dennoch die Tagesordnung umgeschrieben.

Anstatt über Hilfe für die Ärmsten der Welt werden die Staats- und Regierungschefs aus den USA, Frankreich, Japan, Deutschland, Italien, Kanada und Russland abermals darüber reden, wie die Menschen in ihren eigenen Ländern vor dem blutigen Terror geschützt werden können.

Das ist es ja auch, was Blair zornbebend von Barbaren sprechen lässt, die sich für ihr mörderisches Handwerk ausgerechnet einen Zeitpunkt aussuchten, an dem die reichsten Länder der Erde den Habenichtsen helfen wollten.

(SZ vom 8.7.2005)

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