Glosse:Das Streiflicht

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Es wächst im Augenblick die Zahl derer, die glauben, moralisch auf der richtigen Seite zu stehen. Die Moral hat ja zwei Seiten, eine richtige und eine falsche. Auf der richtigen Seite der Moral steht man dann, wenn man dem nach eigenem Ermessen ausgeloteten Bösen den Zutritt verweigert, beispielsweise den Zutritt zu einer Veranstaltung. In Hamburg verwehrten Menschen, die auf der richtigen Seite standen, dem Gründer der AfD, Bernd Lucke, den Zugang zum Hörsaal, wo er als Wirtschaftsprofessor eine Vorlesung halten wollte. Lucke klinge ähnlich wie Höcke, war die Quintessenz dessen, was gegen den Mann vorgebracht wurde. Er habe zu schweigen, genauso wie Thomas de Maizière zu schweigen habe: Dieser dürfe in Göttingen nicht aus seinem Buch "Regieren" lesen, weil er dem Flüchtlingsdeal zugestimmt habe und dafür verantwortlich sei, dass sich die Bundesregierung nun von der Türkei abhängig gemacht habe. Es ist erstaunlich, was für flamboyante Loopings ein Hirn vollbringen kann, wenn es unbeschwert von Wissen ist!

Ein Student sagte dem Spiegel, er und seine Kommilitonen, die Lucke niederschrieen, seien auf der moralisch richtigen Seite. Diese Standortbestimmung muss mit von geistiger Stickluft schwer beschlagenem Kompass vorgenommen worden sein. Die Geschichte kennt etliche Beispiele, anhand derer man sagen darf: Das größte Elend ist nicht zuletzt von denen ausgegangen, die sich moralisch auf der richtigen Seite sahen. Irgendwann werden Historiker ergründen, warum 2019 so viele Studenten so wenig Lust an der klugen Auseinandersetzung mit abweichenden Meinungen hatten. Warum sie, anstatt sich mit dem aufregenden Prinzip des Streitens und des Widerspruchs zu beschäftigen, sich kreischend und rempelnd in Uni-Eingänge warfen und alles niederbrüllten, was sie nicht begreifen konnten.

Der Philosoph Ivan Krastev schreibt in seinem Essay "Europadämmerung", "dass geschichtliche Erfahrung keine Rolle mehr spielt und nur wenige sich dafür interessieren". Für diesen infamen Befund müsste sich jetzt aber bitte die halbe Humboldt- Uni vor Krastevs Zimmer stellen und den Mann niederbrüllen. Ach so, Krastev unterrichtet gar nicht in Berlin, sondern in Sofia und Wien? Gut, man kann auch nicht alles wissen als moralisch rempelnder Student.

© SZ vom 01.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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