Glosse: Das Streiflicht

(SZ) Ist von einer Kultur der Beleidigung die Rede, so zielt das nicht, wie das goldwerte Wort Kultur vermuten ließe, auf eine besonders hohe, ausgefinkelte, von Kraft und Schönheit strotzende Beleidigungskunst. Kultur wird in diesem Zusammenhang so inflationär und sinnentleert verwendet, wie man das mittlerweile von tausend anderen Kulturen kennt: von der des Miteinanders, der Achtsamkeit, der Logistik, des Berührtseins, des Vertragens, des Teilens, der Digitalität und natürlich des Scheiterns, das in seiner Sonderform des Nach-vorne-Scheiterns heute mehr vonnöten wäre als je zuvor. Gemeint ist mit Kultur immer die Praxis, und in diesem Sinn hat Papst Franziskus an Pfingsten die Kultur der Beleidigung angeprangert. Was dabei auffiel, war die Nennung einer vergleichsweise neuen Kultur. Dem Papst zufolge leben wir "in una cultura dell'aggettivo", also in einer Kultur des Adjektivs beziehungsweise, genauer gesagt, des Adjektivierens, die uns den Substantiv der Dinge vergessen lasse.