Glosse:Das Streiflicht

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(SZ) Ach, unsere Kolumne würde nicht hinreichen für die auch in dieser Zeitung engagiert betriebene Aufzählung all dessen, was nicht mehr so ist, wie es einmal war. Früher wurde auf der Aussichtsterrasse noch ein ehrliches Kännchen Kaffee gereicht (eine Folge des "Draußen gibt's nur Kännchen"-Grundgesetzes der deutschen Gastronomie, das ebenfalls verschwunden ist), heute ist es XXL-Sojacappuccino Royal in sieben nichtsnutzigen Varianten; und die Aussichtsterrasse selbst heißt längst Wohlfühl-Oase. Früher hat man am Frühstückstisch die ehrwürdige Welt am Sonntag zur Hand genommen und wurde zuverlässig darüber informiert, dass die kommunistische Indoktrination unsere Gesellschaft schon bald in den Untergang führen werde und die SPD schuld daran sei. Was aber las man an diesem Wochenende als Titelgeschichte in der "Wams"? Berlin arbeite daran, das "Sex-Utopia" unter den Metropolen zu werden, denn die Berliner "treffen sich zu Public-Porn-Viewings, tauschen munter ihre Partner und entdecken neuartiges Intimspielzeug". Vielleicht hat es ja doch etwas Beruhigendes, dass Berliner Utopien sich erfahrungsgemäß um das eine oder andere Jahrzehnt verschieben bis zum Tag der feierlichen Eröffnung.

Nein, fast nichts ist mehr, wie es war. Sogar beim MSV Duisburg nicht, dem einzigen Verein der Republik, der den Münchner Löwen gelegentlich den Rang als Tabellenführer ewiger Pleiten und Pannen des deutschen Fußballs streitig machte und gleichzeitig heiß dafür geliebt wird, dass er früher einmal beinahe der größte war. Noch in jüngerer Zeit beklagten bloggende Fans, die deutsche Sprache biete leider nicht genügend Variationen für Sätze wie "Der MSV hat schon wieder verloren". Und am Samstag? Mit dem Rücken zum Spielfeld nahm der Torhüter des Zweitligisten einen kräftigen Schluck aus der Wasserflasche, ein tiefenentspannter, mutig tätowierter Mann, Verkörperung einer selten gewordenen Haltung, die sich von Stress und Hektik unserer Gegenwart nicht aus der Ruhe bringen lässt. Leider fand Duisburgs Keeper mental erst ins Spiel zurück, als der Ball neben ihm ins Gehäuse einschlug und die gegnerischen Kicker sich jubelnd in den Armen lagen.

Experten sagen, ein solcher Aussetzer sei in der Geschichte des Ballsports unerreicht, selbst 1860 München habe niemals . . . Aber lassen wir das. Jedenfalls, jetzt "lacht das Netz", wie es überall heißt. Wenn das Netz lacht, kann dies bei Menschen, die ihre Lebensaufgabe nicht darin sehen, hämisches Zeug über andere zu posten, eine gewisse Nostalgie nach jener Vorzeit wecken, als der 54-er Weltmeister Helmut Rahn noch für den MSV spielte und das einzige Netz jenes war, in das er die Bälle hämmerte. Übrigens: Der MSV gewann am Samstag trotzdem 2:1 und steht nun dicht vor den Aufstiegsplätzen. Auf nichts ist mehr Verlass.

© SZ vom 26.02.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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