Glosse:Das Streiflicht

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(SZ) Groß ist die Angst der Menschen vor dem Verlust des Schlüssels zum eigenen Haus, zur eigenen Wohnung. Schrecklich die Vorstellung, ausgesperrt zu sein aus den eigenen Wänden und vor der Tür zu stehen, die von allen geschlossenen Türen am abweisendsten aussieht: der eigenen. Zum Glück gibt es die Schlüsseldienste, aber die Virtuosität, mit der sie jede Tür öffnen, ist nicht nur tröstlich. Zu sehr ist sie die Doppelgängerin der Kunst des Einbruchs. Und oft bleibt die Schrecksekunde, die den Verlust eines Hausschlüssels offenbarte, noch lebendig, wenn er längst wiedergefunden ist. Die Sprache in ihrer unendlichen Weisheit gibt Fingerzeige darauf, warum das so ist. Altes Haus lässt sie einen Freund zum andern sagen, das klingt jovial, harmlos, aber im Innern der Menschen hat sie just dort, wo der Kopf und sein vornehmster Bewohner, der Verstand, zu Hause sein sollten, ein unheimliches Oberstübchen eingerichtet, in dem es oft nicht mit rechten Dingen zugeht. Lange bevor Sigmund Freud entdeckte, dass das Ich nicht Herr im eigenen Haus ist, und für die Kinder der Moderne seine dreigeschossige Praxis aus Es, Ich und Über-Ich errichtete, wusste die Sprache, wie eng Ich und Haus, die Türen der Wohnung und die der Seele miteinander verbunden sind.

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