Glosse:Das Streiflicht

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(SZ) Einer der interessantesten Mitspieler aller Machtintrigen ist das Ohr des Herrschers. Es ist ein stilles Organ, anders als der Mund, mit dem er seine Reden hält, und es zieht weniger Blicke auf sich als die Hände, mit denen er seine großen Gesten vollführt. Aber es ist das Einfallstor der Schmeicheleien und Einflüsterungen aller Art, und ist das Organ, das den Herrscher mit seinen Beratern verbindet. Was an das Ohr des Machthabers dringt und was nicht, kann über Krieg und Frieden entscheiden, mehr noch als die Bilder, die seine Augen sehen. Denn was der Herrscher hört oder nicht hört, bestimmt darüber, wie er die Bilder deutet. So sahen es die klugen Leute, die im Europa der Könige und Fürsten, an den Höfen in England, Spanien oder Frankreich, über das Ohr des Herrschers nachdachten und im Zugang zu diesem den Schlüssel zum Gewinn von Machtspielen erkannten. Auf den Brettern, die die Welt bedeuten, in den Königsdramen Shakespeares, fand diese Erkenntnis rasch ein großes Publikum, und die Figur des blinden Machthabers, der seinen Beratern ausgeliefert ist, betrat die Bühne.

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