Glosse:Das Streiflicht

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(SZ) Wer in Schubladen denkt, gilt Menschen, die sich für Freigeister halten, schnell als engstirnig. Doch diesen Vorwurf können nur jene erheben, deren Horizont so überschaubar ist, dass sich jede weitere Unterteilung ihrer Gedankenwelt erübrigt. Alle anderen wissen, dass eine gewisse Verengung nottut, wenn das Feld gar zu weit ist. Würfe man, ein Beispiel aus der dinglichen Welt, seine gesamte Kleidung in einen Sack, statt sie fein säuberlich und übersichtlich an Haken zu hängen und in Fächern zu verstauen, man bräuchte Stunden, nur um zwei gleiche Socken zu finden. So viel Zeit hat niemand. Deshalb gibt es Schubladen. Und deshalb gibt es Hashtags.

Dem Amerikaner Chris Messina, der das Hashtag vor genau zehn Jahren erfand, ist aus mindestens zwei Gründen zu danken. Einmal, weil er etwas Ordnung in den gigantischen Kleidersack namens Internet gebracht hat. Und zweitens, weil er dem Doppelkreuz # (englisch: "hash") zu Prominenz verholfen hat, das bis dato die kümmerliche Schattenexistenz auf der Computertastatur links neben der Entertaste fristete, die es auf herkömmlichen Telefonen bis heute einnimmt. Als Hashtag dagegen hat uns das Symbol in den vergangenen zehn Jahren vieles geschenkt: das Gefühl, einer Gruppe anzugehören, auch wenn man den Sonntagabend wie immer alleine vor dem Fernseher verbringt (#tatort), kryptische Buchstabenkombinationen zur Erinnerung an unvergessliche Fußball-Länderspiele (#brager), ein Buchstabenverhau, der die Sinnlosigkeit der Präsidentschaft Donald Trumps einfängt (#covfefe), die Entbindung von der lästigen Pflicht, ganze oder auch nur halbe Sätze zu formulieren (#früherwarallesbesser), die beruhigende Erkenntnis, dass die CDU die CDU bleibt, auch wenn sie einen coolen Online-Wahlkampf ausgeheckt hat (#fedidwgugl, die eingängige Abkürzung für den Slogan "Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben"). Den Geburtstagswünschen an das Hashtag, die sich im Internet unter dem leicht verwirrenden #hashtag versammeln, kann man sich an dieser Stelle nur anschließen, auch wenn das Hashtag selbst in seinem natürlichen digitalen Lebensraum davon vermutlich nichts mitbekommen wird (#streiflicht).

Doch bei aller Feierlaune sollte Zeit bleiben, um eines Zeichens zu gedenken, das durch das Hashtag in seinem Bestand akut gefährdet ist: das Leerzeichen. Noch darf es sich in seiner wenig auftrumpfenden Art auf dem prominentesten Platz der Computertastatur breitmachen, doch muss man ihm wohl schon jetzt ein vorsorgliches #RestInPeace widmen. Seine Tage sind gezählt in einer Welt, die keine Zeit und noch weniger Verständnis für das Innehalten hat. Man kann sich ausmalen, wie die Taste in Zukunft kleiner und kleiner wird, um schließlich ganz dem # weichen zu müssen. Immerhin: Neben der Entertaste wird dann ein Gnadenplätzchen frei.

© SZ vom 23.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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