Glosse:Das Streiflicht

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(SZ) Zwiespältig ist der Ruf der Rampensau. Wenn sie über die Bühne tobt wie eine Naturgewalt, sich an ihren Gegenspielern wund scheuert und jedes Regiekonzept sprengt, strahlt sie eine Vitalität aus, der niemand den Respekt versagen mag. Wenn sie aber am Ende erschöpft an die Rampe tritt, mischt sich in den aufbrandenden Beifall der Verdacht, sie habe sich nicht im Dienste der Kunst verausgabt, sondern lediglich im Dienst der eigenen Natur. Darum heißt die Rampensau, wie sie heißt. Die Gier nach Beifall treibt sie auf und über die Bühne, unabwendbar ruft ihr Name die Vorstellung auf, wie sie sich hemmungslos im Applaus des Publikum suhlt.

"Animale da palcoscenico" heißt die Rampensau in Italien. Das rückt wie bei uns ihre tierische Natur ins Zentrum, verzichtet aber auf den missbilligenden Unterton, der durch das Säuische, sich schweinisch im Beifall Suhlende ins Spiel kommt. Der Turiner Schauspieler Giovanni Mongiano ist denn auch ein sehr kultivierter Vertreter seiner Zunft. Das Soloprogramm, mit dem er derzeit auf Gastspielreise ist, heißt "Improvvisazioni di un attore che legge", "Improvisationen eines lesenden Schauspielers". Er erzählt darin die tragikomische Geschichte eines Doppelgängers, eines von Glück und Erfolg wenig begünstigten Wanderschauspielers, den er eigens zu dem Zweck erfunden hat, das Publikum durch die Theaterwelten von Shakespeare über die Commedia dell'Arte bis zu Pirandellos Figuren zu führen, die nach ihrem Autor suchen.

Als Giovanni Mongiano vor wenigen Tagen die Bühne des "Teatro del Popolo" der Kleinstadt Gallarate in der Provinz Varese betrat, sah er sich einer Herausforderung gegenüber, die Pirandello nicht besser hätte ersinnen können. Er blickte in einen vollkommen leeren Zuschauerraum. Die Sorge des Wanderschauspielers, den er erfunden hatte, war Wirklichkeit geworden. Er war in einem Theater ohne Publikum. Damit aber konnte sich die jahrzehntelange Improvisationserfahrung, die in Giovanni Mongiano steckt, nicht abfinden. Er führte nach einer kleinen Schrecksekunde den leeren Zuschauerreihen unter Aufbietung aller seiner schauspielerischen Kräfte seine "Improvvisazioni" ungekürzt vor und löste so nicht nur das Versprechen des Werbeplakats für sein Soloprogramm ein: "Eine leidenschaftliche Liebeserklärung an das Theater". Er erfand zugleich eine Figur, die im Theater bis dahin als schlechterdings unmöglich galt: die Rampensau ohne Publikum, das "animale da palcoscenico", das nur die Rampe selbst braucht, um zur Verausgabung aller Kräfte angestachelt zu werden. Als wär's ein Stück von Pirandello, saß dann aber doch irgendwo im Dunkel des leeren Theatersaals eine einsame, nicht zahlende Zuschauerin. Es war die Kassiererin, die keine einzige Eintrittskarte verkauft hatte. Ihrem Applaus schließen wir uns aus der Ferne an.

© SZ vom 13.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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