Glosse:Das Streiflicht

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(SZ) Eines der schönsten und am häufigsten verwendeten Wortgeschenke kommt aus den freigiebigen Händen der Naturwissenschaftler: das zumeist adverbial verwendete "relativ". Es ist das ideale Sprachpanschmittel für Leute, die kaum einen klaren Gedanken fassen können, aber leider in der Pflicht stehen, diesen und andere unklare Gedanken öffentlich in Worte zu kleiden. Kürzlich erklärte der Regisseur Nicolas Stemann, der in München das neue Stück von Elfriede Jelinek inszeniert, die Autorin habe auch in diesem Werk, es heißt "Wut", "wieder mal relativ prophetisch" geschrieben. Wäre man ein diskursives Kampfschwein, müsste man Stemann seinen Satz relativ brutal um die Ohren hauen, denn bitte: relativ prophetisch, was soll das denn sein? Prophezeiungen sind doch von Natur aus schon relativ, oder? Einen sehr schönen Relativsatz hat kürzlich auch der Bundesfinanzminister ausgesprochen: "Es macht relativ viel Sinn, Lebenserwartung und Lebensarbeitszeit in einen fast automatischen Zusammenhang auch in der Rentenformel zu bringen." Ein Satz für Ratefüchse: Wie viele Relativierungen sind hier drin? Eine, zwei? Ja, es sind zwei, denn der "fast automatische Zusammenhang" ist in Wahrheit ein versteckter "relativ automatischer Zusammenhang". Vermutlich hat Wolfgang Schäubles Referent das zweite "relativ" aus dem Manuskript gefeuert, damit der Satz sprachlich so schön funkelnd daherkommt.

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