Glosse:Das Streiflicht

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(SZ) Was ist der Mensch? Das fragt, stellvertretend für uns alle, der Psalmist, und er antwortet auch gleich: Wie Gras sind seine Tage, wie eine Blume auf dem Felde blüht er auf. Dann aber fährt ein Wind über ihn hin, und man weiß nicht einmal mehr, wo er stand. Gegen dieses Nichtwissen arbeiten die Menschen von jeher an, die Museen sind voll mit Andenken und Zeugnissen wie Uniformen, Bildern, Möbeln oder Briefen. Ein zwischen den Sparten Naturalia, Artefacta, Exotica und Mirabilia angesiedeltes Genre bilden die angebissenen Lebensmittel. Ihr morbider Zauber rührt daher, dass sie einerseits Ekel erregen, uns andererseits aber näher an die Gestalt unseres Interesses, ja unserer Bewunderung heranbringen als die üblichen Naturalia, etwa die notorischen Haarlocken. Als in Coswig das Beatles-Museum eröffnet wurde, erregte ein von Ringo Starr 1962 auf der Reeperbahn angebissener Apfel Staunen, und das von Konrad Adenauer angebissene Canapé, das der Kollege Claus Heinrich Meyer sich einst beim Bundespresseball sicherte, war - gerade in seiner Versehrtheit und Verlassenheit - ein nicht zu verachtendes Stück Zeitgeschichte.

Im Meraner Touriseum haben sie jetzt ein Exponat bekommen, das in diese Kategorie gehört, darin allerdings in die Untergruppe "Angebissen, aber nicht wirklich". Es handelt sich um den Kuchen, den die Sonnenwirtin von Nals in höchster Aufregung buk, als Kaiserin Elisabeth von Österreich Ende September 1897 unvermutet bei ihr einzukehren geruhte. Elisabeth aß davon eine dünne Scheibe, der Rest wurde in Ehrfurcht aufbewahrt. Was lernen wir aus dem k. u. k. Mehlspeisenrest? Nichts, was nicht schon bekannt gewesen wäre. Elisabeth alias "Sisi" war um diese Zeit kränker und ruheloser denn je, ihre kargen Mahlzeiten bestritt sie mit Milch, rohen Eiern und Tokayer. Für ihre Freunde ist das heute noch schmerzlich, und dies umso mehr, als Elisabeth von Haus aus eine Schwäche für Süßigkeiten hatte, insbesondere für Gefrorenes, Biskuit, Bretzeln und Zwieback. Zu Torten sagte sie nicht nein, ebenso wenig zu Käsegebäck, Zwiebelkuchen und Schinkenkipferln. Von ihrer Köchin Therese Teufl ließ sie sich Veilchengefrorenes zubereiten, ein Dessert, vor dem es ihrem Gemahl grauste. Allein der Gedanke daran, so Kaiser Franz Joseph, "gab mir fast Übligkeiten".

Der Kuchen der Sonnenwirtin muss, soweit man das nach 118 Jahren noch eruieren kann, ein Schokokuchen gewesen sein. Das schlägt, zeitlich wie örtlich, einen sinnreichen Bogen zum Restaurant "Sissi" in Berlin-Schöneberg. Dort hat man eine an die Sachertorte angelehnte Sissi-Torte entwickelt, bei der die Schokolade ebenfalls ein gewichtiges Wort mitzureden hat. Um "Übligkeiten" hintanzuhalten, wird empfohlen, davon keine allzu großen Stücke abzuschneiden. Größer als das seinerzeit in Nals sollten sie aber schon sein.

© SZ vom 03.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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