Glosse:Das Streiflicht

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(SZ) Im bunten Reigen der Nationalcharaktere ist der britische Exzentriker festes Ensemblemitglied. Unübertroffen hat diesen Typus immer wieder der Monty-Python-Schauspieler John Cleese verkörpert. Im Film "Clockwise" beispielsweise spielt er einen überpünktlichen Schuldirektor, der sein Leben so streng nach der Uhr ausgerichtet hat, dass es völlig entgleist, als er ein einziges Mal den Zug verpasst. Die Uhr, an der das Vereinigte Königreich als solches sich ausrichtet, ist die Turmuhr des Parlamentsgebäudes, besser bekannt als Big Ben. Jeden Abend überträgt die BBC die Glockenschläge live im Radio. Seit zwei Wochen jedoch ist der große Ben notorisch unpünktlich und platzt bereits sechs Sekunden zu früh in die Sendung. Das 1859 in Gang gesetzte Uhrwerk scheint auf seine alten Tage etwas schrullig und selbst zu einem britischen Exzentriker geworden zu sein. "Die Zeit ist aus den Fugen", könnte man mit Shakespeares Hamlet sagen, dem zweiten Grund, weshalb London momentan nicht mehr ganz richtig tickt.

Als sich die Nachricht verbreitete, dass der Sherlock-Holmes-Darsteller Benedict Cumberbatch in der Rolle des Dänenprinzen auf der Bühne stehen wird, waren sämtliche Vorstellungen binnen Minuten ausverkauft, per Internet. Womit wir beim Fluch der modernen Technik wären. Diszipliniert in der Warteschlange zu stehen, bis man, etwa an der Theaterkasse, an die Reihe kommt, das sogenannte Queuing, gilt in England als nationales Kulturgut. Wenn aber schon der altehrwürdige Big Ben sich mittlerweile vordrängelt, ist es wirklich fünf vor zwölf. Beruhigend wirkt immerhin die sympathisch altmodische Art und Weise, wie die Parlaments-Uhrmacher versuchen, das Problem in den Griff zu bekommen. Statt, wie heute allgemein üblich, ein Bearbeitungs-"Ticket" anzulegen und nie wieder von sich hören zu lassen, platzieren sie geduldig einzelne Penny-Münzen auf dem Pendel, um es so auf die richtige Geschwindigkeit zu trimmen. Diese Feinabstimmung der feinen englischen Art blieb bislang allerdings ohne durchschlagenden Erfolg.

Reparaturanfälligkeit hat ja eine große Tradition in England. Einstmals, als Großbritannien noch über eine nennenswerte Automobilindustrie verfügte, trug sie den Spottnamen "British Elend", eine Spitze gegen die British Leyland Motor Corporation, die den Mini Cooper baute und andere extrem garagenaffine Fahrzeuge für wahre Liebhaber. Für wahre englische Patrioten versteht es sich von selbst, dass die Instandsetzung von Big Ben einzig und allein mit Münzen der eigenen Währung gelingen kann. Gibt es ein besseres Argument dafür, sich auch weiterhin gegen den Euro zu stemmen? Sollte das mit den Pennys nicht hinhauen, muss halt Hamlet Benedict Cumberbatch höchstselbst in den Glockenturm steigen, um herauszufinden, warum die Zeit aus den Fugen ist.

© SZ vom 27.08.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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