Glosse:Das Streiflicht

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(SZ) Moment mal, fehlt in unserem Land seit geraumer Zeit nicht etwas? Wo sind die großen Männer, die uns Deutschen ins Gewissen reden; die uns erklären, was wir zu lesen und wie wir über uns selbst zu befinden haben? Der Großkritiker lebt nicht mehr, der Großschriftsteller lebt nicht mehr, der Großwettermacher lebt verstimmt in der Schweiz. Unsere großen Erzieher und Zuchtmeister sind von hinnen gegangen, und jetzt stehen wir im Regen und wissen nicht, wann es wieder schön werden soll ohne Reich-Ranicki, ohne Grass, ohne Kachelmann. Es war ja immer so: Wir Deutschen konnten machen, was wir wollten: falsch wählen, falsch essen, falsch über Deutschland denken. Wir konnten den ganzen Sommer über dumm und unbedacht daherreden. Warum? Weil spätestens im Herbst, wenn sich die Menschheit wieder zum Publikum wandelte, unsere großen Gewissensmenschen vor der Kamera standen und uns den berühmten Spiegel vorhielten. Heute gibt es ja nicht einmal mehr Spiegel, man muss zur Selfie-Stange greifen, um zu sehen, wie man von ferne aussieht. Ach, sind wir wirklich von allen guten Geistern verlassen?

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