Glosse:Das Streiflicht

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(SZ) Ende September empfiehlt es sich, ein Wochenende in der Schwabenakademie Irsee zu verbringen, denn es geht dort um die historische Einordnung sowie die ästhetische, theologische und phänomenologische Beleuchtung des Damenstrumpfs. Der Damenstrumpf blickt, ähnlich wie die Merowinger und die Kelly-Family, auf eine bewegte Geschichte zurück, deren einzelne Fäden sich immer wieder mit denen der allgemeinen Zeitgeschichte verknüpften. Es ist ja so: Jeder weiß oder glaubt zu wissen, was ein Damenstrumpf sei - ein Strumpf für Damen eben, der sich je nach Epoche rokoko-grazil, biedermeier-züchtig oder wilhelminisch-dragonerhaft präsentierte. All das ist richtig, aber nur die halbe Wahrheit. Die ganze Wahrheit lautet: Nirgendwo spiegeln sich die Brüche in der Geschichte so deutlich wie in der Laufmasche des Damenstrumpfs. Das Offensichtliche und das Verborgene, in der Kulturwissenschaft in wechselwirkendem Verhältnis stehende Begriffe, geraten am Beispiel des Damenstrumpfs zum spätmodernen Spiel mit der historischen Faktizität.

Vieles wird vermutlich auf den Kopf gestellt werden in jenen aufregenden Spätseptembertagen in Irsee. Die Herrschaft des entfesselten Beins wird den herrschaftsfreien Diskurs bestimmen oder, wer weiß, ersetzen. Fachleute aus sehr unterschiedlichen Denkschulen stehen bereit, an einer neuen Kulturgeschichte des Strumpfs zu stricken, und sie wollen dabei auch die dunklen Seiten der Geschichte nicht ausblenden. Denn nach den kapriziösen Jahren der Weimarer Republik, in welchen der Damenstrumpf sich gewissermaßen zum Bubikopf des Frauenfußes wandelte, kam das Dritte Reich, und wie wir wissen, hat es in der Zeit des Nationalsozialismus auch bei den Strümpfen eine Menge Mitläufer gegeben. Dann aber folgten die Jahre des Wiederaufbaus, der Damenstrumpf musste sich um das mondaminfix-verwöhnte Damenbein schmiegen, und was soll man sagen: Er erwies sich als dermaßen kompromissfähig, dass besonders gewitzte Historiker den Strumpf inzwischen als den Talleyrand der Beinbekleidung bezeichnen.

Die Sprache der Strümpfe - ein klug gesetztes Vortragsthema gegen Ende des Seminars - kommt als eine besonders fein gewebte Spielart des Esperanto daher. Der Strumpf knüpft ein Band, das die Völker vereinigt. Wenn vom Damenstrumpf die Rede ist, steht die Frau aus Frankreich ganz nah bei der Dame aus Österreich und umgekehrt. Strümpfe sind die analogen Netzwerke unserer Zeit, und es ist schön und wichtig, dass diese traditionsreiche Form kommunikativer Elastizität nun endlich einmal theologisch, phänomenologisch und ästhetisch ausgeleuchtet wird. Wer selbst einen Strumpf trägt und Ende September Zeit hat, möge hingehen. Wohin? Zum Damenstrumpfseminar. Natürlich in Irsee.

© SZ vom 19.08.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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