Glosse:Das Streiflicht

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Im Süden Perus leben Stämme, bei denen es als unschicklich gilt, Fragen von Fremden anders als höflich und hilfsbereit zu beantworten. In Berlin ist das umgekehrt. Die Berliner glauben zwar, sie hätten zu allem etwas zu sagen und auf alles eine Antwort. Sie sind aber nicht bereit, eine solche zu geben, jedenfalls nicht unter Wahrung gewisser zivilisatorischer Mindeststandards. Fragt man dagegen die Indigenos aus Peru: Buenos días, muchachos, wo ist denn der Weg zur Küste, bitte, sagen sie nicht wie die Berliner: Dann gehste mal besser an die Kaufdirnstadtplan-Straße Ecke Kiecksteselba, wa. Nein, die Ureinwohner rufen: "Willkommen, señor, es freut uns außerordentlich, Ihnen helfen zu dürfen, das Meer ist ganz nah, bald können Sie es riechen, folgen Sie einfach dieser Straße und biegen links ab, sodann . . ." Zwei Tage später steht der Reisende verloren im Dschungel, von dessen Wipfeln höhnisch die Hyazinth-Aras krächzen. Die Ureinwohner hatten nämlich nicht den geringsten Schimmer, wo bei den Göttern es zum Meer geht. Sie sind aber viel zu höflich, um dem Gast eine solch schmerzliche Auskunft zu geben.

Soziologen reden dann von kulturellen Missverständnissen. Unsere neuen griechischen Freunde etwa sind aus einer tiefen sozialen Prägung heraus der Ansicht, die linke Vision einer gerechteren Welt bedeute, keine Krawatte zu tragen und anderer Leute Geld ausgeben zu dürfen, ohne es zurückzuzahlen. Für den deutschen Finanzminister Wolfgang Schäuble und seine Mitstreiter dagegen sieht die Vision der Hölle so aus, dass jemand zum Monatsende seine Raten nicht auf den Tag und den Cent bedient. Wer das unterlässt, noch dazu mit provozierend offenem Hemdkragen, der muss "halbstark" sein, mutmaßt der CSU-Politiker Hans-Peter Friedrich; so bezeichnete man einst jugendliche Angeber.

Gewiss, man kann sich vorstellen, wie Griechenlands kerniger Finanzminister Yanis Varoufakis, ein Motorradfreak, durch Berlin brettert und dabei wie 1965 die Yankees deren ewigen Hit röhrt: "Halbstark, oh Baby Baby halbstark, oh Baby Baby halbstark, halbstark nennt man sie, yeah, yeah, yeah, yeah!" Ängstlich ducken sich die braven deutschen Sparer weg, nur Schäuble nicht. Er behandelt die Griechen von jeher wie ungezogene Halbwüchsige, die von seinem Geld ein schrottreifes Moped gekauft haben. Wenn Varoufakis damit singend herumbraust, als gebe es kein Morgen und keine Sorgen, erstarrt aber vielleicht selbst Schäubles sardonisches Lächeln, das er für die Unverständigen dieser Welt bereithält. Kann nämlich sein, dass die Griechen nicht nur nicht zahlen wollen, sondern auch nicht können. Schäuble ist ja alt genug, den Text des Halbstarken-Lieds von 1965 noch zu kennen: "Und die Maschinen sind alles, was sie haben / heiße Melodien, sie heulen durch die Nacht."

© SZ vom 27.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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