Gewalt an Berliner Schulen:Das Ende des Schönredens

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Veränderte Wahrnehmung: Seit dem Hilferuf der Rütli-Schule wächst in Berlin die Einsicht, dass die Gewalttaten von Jugendlichen keine Einzelfälle sind.

Philip Grassmann

Man wird es wahrscheinlich nie genau wissen, aber es spricht einiges dafür, dass der Hauptstadt kürzlich nur knapp eine Tragödie erspart geblieben ist. Eine 18-jährige Schülerin hatte eine Pistole in eine Realschule im Stadtteil Moabit mitgebracht. Niemand bemerkte es, bis sie die Waffe drei Schülerinnen zeigte. Die liefen anschließend zum Direktor. Sahlia M. hat zum Glück niemanden bedroht.

Sie hat die Waffe vielmehr versteckt, als sie merkte, dass ihr der Direktor auf der Spur war. Die Polizei fand die Pistole später auf dem Grünstreifen einer großen Straße, mit zwei vollen Magazinen. Sahlia M. soll früher gesagt haben, sie wolle eine Lehrerin töten. Die Mutter der 18-Jährigen meint dagegen, ihre Tochter habe die Waffe einer Freundin abgenommen, die "Scheiße bauen" wollte. Man fragt sich, ob das wirklich beruhigen kann.

Dieser Fall ist einer von vielen, die in den vergangenen Wochen an Berliner Schulen bekannt geworden sind, und in der Stadt läuft inzwischen eine heftige Debatte über den Umgang mit dem Problem. Da gab es etwa den Jungen, der eine Zeit lang nur unter Polizeischutz in die Schule gehen konnte, weil er sich mit einer Schüler-Gang angelegt hatte. Oder der Vorfall mit dem 12-Jährigen, der eine Lehrerin mit einem Faustschlag ins Gesicht so schwer verletzte, dass sie im Krankenhaus operiert werden musste.

Schulsenator unter Druck

Oder die vier Schüler zwischen 13 und 15 Jahren, die nacheinander ein 16-jähriges Mädchen vergewaltigt haben sollen. Am vergangenen Freitag schließlich wurde ein Grundschullehrer auf dem Schulhof von einem 13- und einem 15-Jährigen niedergeschlagen und mit Fußtritten malträtiert. Die Liste ist unvollständig und ließe sich leicht fortsetzen. Seit dem Brandbrief der Lehrer der Neuköllner Rütli-Schule sind die Vorkommnisse in der öffentlichen Wahrnehmung keine Einzelfälle mehr, sondern ein Besorgnis erregendes Phänomen. Nicht zuletzt Schulsenator Klaus Böger (SPD) steht deshalb unter Druck.

Doch wie bedrohlich ist die Entwicklung an den Schulen wirklich? Die Berliner Polizeiexpertin für Jugendgewalt, Susanne Bauer, sagt, für eine gesteigerte Gewalttätigkeit von Jugendlichen gebe es keine Belege, die Zahlen seien vielmehr seit Jahren rückläufig. Auch der Leiter des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, Christian Pfeiffer, spricht von einem Rückgang der Jugendgewalt.

Als Beleg führt er unter anderem einen Bericht vom Bundesverband der Unfallkrankenkassen an. Es sind relativ verlässliche Zahlen, die darin präsentiert werden, weil die Schulen gesetzlich verpflichtet sind, Vorfälle an die Unfallversicherungen zu melden, wenn ein Schüler infolge einer Gewalttat ärztlich behandelt werden muss.

Der Bericht zeigt, dass die Zahlen von 1993 bis 1997 relativ konstant geblieben und seitdem um fast ein Drittel gesunken sind. Das, so Pfeiffer, lege den Schluss nahe, dass die Gewalt auf dem Rückzug ist.

Doch es gibt auch andere Signale, zumindest in der Hauptstadt. Dort gilt bereits seit 1992 eine Meldepflicht für Gewalttaten an Schulen - und die Zahlen sind stark gestiegen, von 270 im Schuljahr 2000/2001 auf zuletzt 894. Böger führt dies vor allem auf ein höheres Problembewusstsein an den Schulen zurück: "Die Sensibilität ist gestiegen. Das ist wichtig, denn wir müssen bei Gewalt hinsehen und handeln - und nicht wegsehen." Aber auch ihm bereiten die hohen Zahlen Sorgen.

Erziehungswissenschaftler wie Hans Merkens, Professor an der Freien Universität Berlin, haben für die Jugendgewalt vor allem zwei Ursachen ausgemacht: mangelnde Werteorientierung sowie die mangelnde Fähigkeit zur Selbststeuerung. Das Problem sind aber nicht die Kinder allein. "Es gibt in Deutschland das Phänomen, dass einige Elternhäuser systematisch versagen", sagt zumindest Böger. Verschärft wird das Problem seiner nach Ansicht noch durch den enormen Fernsehkonsum von Jugendlichen.

Böger verweist dabei auf eine Tabelle aus dem jüngstem Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung. Demnach verbringen Jugendliche über 14 Jahren durchschnittlich 217 Minuten vor dem TV und 75 Minuten vor dem Computer. Zusammen sind das knapp fünf Stunden - täglich. "Fernsehen ist zwar nicht grundsätzlich von Übel. Aber dieser maßlose Fernsehkonsum schließt einen personalen Beziehungsaufbau und eine Entwicklung der Beziehungen aus", sagt Böger.

Jugendliche würden kaum noch mit anderen umgehen. "Die schwerwiegenden Folgen können emotionale und soziale Störungen sein", warnt der Senator. Zumindest eines ist sicher: Nach Angaben der Berliner Bildungsverwaltung hat es in den vergangenen Jahren einen Anstieg von emotional oder sozial auffälligen Kindern von 300 auf 2800 gegeben.

Bei der Suche nach einem Ausweg scheiden sich die Geister. Die CDU-Opposition ruft nach einem schärferen Jugendstrafrecht, auch durch Herabsetzung der Strafmündigkeit. Böger hält davon wenig, ebenso wie jüngst die Konferenz der Justizminister. "Es gibt keine Zauberformel. Es gibt immer nur Mosaiksteine", sagt der Senator.

Einer dieser Mosaiksteine ist für Böger eine niedrigere Hürde für den Eingriff in Elternrechte. Das gegenwärtige System richte sich daran aus, dass Vater und Mutter absoluten Vorrang bei der Erziehung haben. "Das ist im Grundsatz richtig. Aber wir haben auch soziale Verhältnisse, bei denen dieser Rechtsschutz im Interesse des Kindes nicht angemessen ist."

Ein Beispiel dafür sei der 12-Jährige, der die Berliner Lehrerin niederschlug: Pädagogen hatten das Kind schon vor Jahren als verhaltensgestört eingeschätzt. Doch die Eltern verweigerten immer wieder eine Zusammenarbeit mit dem Jugendamt.

Zur Not auch gegen den Willen der Eltern

Nun soll der Junge nach dem Willen von Böger in ein Heim eingewiesen werden, zur Not auch gegen den Willen der Eltern. Umstritten ist aber, ob der einschlägige Paragraf 1666 des BGB ("Gerichtliche Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls") das hergibt. Die Justizminister haben deshalb bereits beschlossen, eine Reform dieser Vorschrift zu prüfen.

Eine weitere Reform strebt Böger derzeit an: Die Zusammenlegung von extrem auffälligen Kindern an Sonderschulen. Schätzungsweise 200 bis 300 gibt es davon in Berlin. Sie werden meist von einer Schule zur anderen geschickt, bis sie dort wieder rausfliegen. Böger will diesen Wanderzirkus abschaffen, weil es keinen Sinn mehr mache, diese Kinder an normalen Schulen zu integrieren. "Die Betreffenden müssen ja nicht auf Dauer an Sonderschulen." Wenn sie, wie Böger sagt, "stabilisiert sind", sollen sie in den normalen Schulalltag zurück dürfen.

© SZ vom 13. Juni 2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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