Gerhard Schröders Abschied:Definitiv gelöst

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Schlussendlich mit ruhiger Hand zieht sich der Kanzler aus der großen Politik zurück. Beim Gewerkschafskongress in Hannover wirkt er geradezu versöhnlich.

Kurt Kister und Jonas Viering

Stumm steht er da, mit vorgerecktem Kinn, und umklammert mit beiden Händen das Rednerpult. Die Gewerkschafter lassen Gerhard Schröder nicht sprechen - nicht weil sie ihn auspfeifen, sondern weil sie ihm stürmisch applaudieren, noch bevor er ein einziges Wort sagen kann. Als die 390 Delegierten der IG Bergbau, Chemie, Energie dann zu rhythmischem Klatschen übergehen, wischt sich Schröder unter einem Auge entlang.

Gerhard Schröder wischt sich unter dem rechten Auge entlang (Foto: Foto: AP)

Auf der Großbildleinwand sehen alle, wie es in den Augen glitzert, und dieses Mal ist es nicht die Angriffslust. Der so oft Geschmähte wird gefeiert. Minute um Minute schallt der Beifall durch die graue Messehalle in Hannover. Der Kanzler setzt seine Brille auf, "damit man im Fernsehen nicht alles sieht", wie er erklärt. "Das ist nicht einfach für mich", sagt er mit rauer Stimme. Und in der plötzlichen Stille nach dem großen Applaus klingt das sehr laut.

Der nächsten Regierung werde er "definitiv" nicht angehören, sagt er dann als Erstes. Vielleicht tut er es, weil die Gewerkschafter zu ihm empor starren, als würden sie gerade des Messias ansichtig, eines Mannes, der auferstanden ist von den politisch Toten als Retter aus aller großkoalitionären Not.

"Aber ich möchte unter euch bleiben", setzt er hinzu. Wäre der Kanzler bibelfest, könnte man meinen, er habe den Satz aus dem Evangelium des Lukas entlehnt. "Ich weiß, wo ich herkomme, und deshalb weiß ich, wo ich hingehöre", fährt er dann fort. Und auch wenn er den Satz schon tausendmal anderswo gesagt hat - die Gewerkschafter springen erneut auf, sie klatschen, klatschen und klatschen.

Die vernagelte Katzenklappe

Nun also hat er sich festgelegt, diesmal auch öffentlich. Wie das bei Gerhard Schröder manchmal so ist, hat er zunächst eine immer noch kryptische Andeutung gemacht. Das war am Dienstagabend auf dem Maschinenbau-Gipfel - was es nicht für seltsame Veranstaltungen gibt - in Berlin.

Dort hielt er eine Rede und streute in sie en passant zwei Sätze ein: "Ich werde jedenfalls daran mitarbeiten, dass es gut wird. So verstehe ich die Aufgaben, die man dann, und auch dann noch hat, wenn man der nächsten Regierung nicht mehr angehört." Aha, dachten etliche, er deutet wieder einmal an, dass er geht, aber er lässt dennoch ein Türchen offen, vielleicht auch nur eine Katzenklappe, weil er ja gesagt hat: "wenn man..."

Am Mittwochmittag hat er auch noch die Katzenklappe vernagelt. Auf dem Gewerkschaftstag seiner Lieblingsgewerkschaft, der sein absoluter Lieblingsgewerkschafter Hubertus Schmoldt vorsteht, hat er den entscheidenden Satz nachgeschoben: "Ich werde der nächsten Bundesregierung nicht angehören. Definitiv nicht." Dieses "definitiv" heißt selbst für Schröders Verhältnisse nun wirklich definitiv.

Allerdings muss man auch einräumen, dass Schröder selbst das Gefühl hat, er habe sich eigentlich schon längst nahezu definitiv geäußert. Er sah sich zwar seit gut zwei Wochen von vielen Parteifreunden bedrängt, noch den Vizekanzler zu machen, aber innerlich hatte er sich, mit Zuspruch seiner Frau, eben doch für den Rückzug entschieden.

Insofern empfand er bereits seinen Satz, er werde "einer Regierungsbildung nicht im Weg stehen", als klare Ansage. Die aber, die ihn halten wollten, interpretierten das nach eigenem Gutdünken als bewusste Nicht-Antwort auf ihre Frage, die sich Schröder selbst aber nie ernsthaft stellte. Er wurde mit ihr zwar konfrontiert, aber auch nicht mehr.

Im Herbst 1998 trat er die Nachfolge von Helmut Kohl an - sieben Jahre später übernimmt Angela Merkel (Foto: Foto: AP)

Gerhard Schröder also wird nun, nicht mehr als Adler und vielleicht noch nicht als lame duck, in den Koalitionsverhandlungen sitzen und später, so um den 20. November herum, Angela Merkel nach ihrer Wahl zur Bundeskanzlerin im Plenarsaal gratulieren. Dann wird er nach Hause gehen, weil er den Sieg nicht errungen hat, und sich stattdessen Viktoria, seiner Adoptivtochter, Klara, seiner Stieftochter, dem Hund Holly und natürlich der Gattin Doris widmen.

Er wird gut bis sehr gut bezahlte Reden halten, es wird mindestens ein Buch unter seinem Namen erscheinen, und er wird Deutschland den Klein-Clinton machen, den beliebtesten, zumindest volkstümlichsten Ex-Kanzler, den wir je hatten. Ein richtiger elder statesman wird er wohl nicht werden, kein Gerhard Kissinger und nicht einmal ein Joschka Schröder. Bei ihm wird es eher auf so eine Art Blacky Fuchsberger unter den Mächtiggewesenen hinauslaufen. Den alten Fuchsberger sieht man immer wieder gerne im Fernsehen, nicht nur, weil er einen an die eigene Jugend erinnert.

"Sieg oder Viktoria" hat Gunter Hofmann in der Zeit schon vor Monaten Schröders politisches Programm trefflich auf den Punkt gebracht. Es ist Viktoria geworden - und eigentlich wollte Gerhard Schröder das von Anfang an. Na ja, von Anfang an zumindest dann, wenn man den 22. Mai als den Anfang von Schröders dann doch wieder irgendwie fröhlichem Ende betrachtet.

Im Nachhinein, speziell seit Merkels Desastersieg vom 18. September, sieht es so aus, als sei es eine nicht schlechte Strategie gewesen: Die SPD rettet sich durch Schröders fulminanten Wahlkampf als nahezu gleich starker Partner in eine große Koalition; Grüne, FDP und PDS bleiben als disparate Opposition zurück. Hätte Schröder das so geplant gehabt, wäre das Ergebnis sehr bemerkenswert.

Sehnsucht nach Israel

Es war aber nicht so geplant. In kleiner Runde hat Schröder unlängst zugegeben, dass er bis Ende August selbst mit einem Wahlsieg von Schwarz-Gelb gerechnet habe. Wer also nun behauptet, es sei dem Kanzler mit seiner Neuwahl stets um die große Koalition gegangen, der betreibt entweder nachträglich bewusste Legendenbildung, oder er hat keine Ahnung.

Gewiss, am Abend des 18. September, als er die TV-Elefantenrunde mit einem Porzellanladen, Nikolaus Brender mit einer chinesischen Vase und Angela Merkel mit einem Kaffeeservice verwechselte, reflektierte er kurzzeitig eine, nein: lüsterte er für ein paar Stunden nach einer ganz anderen Konstellation: "Ich bleibe Kanzler und regiere mit Stoiber als Außenminister."

Sogar seine treueste Anhängerin Doris Schröder-Köpf aber empfand sein Benehmen an jenem Abend als "zu krawallig". Kurz nach dem TV-Event kolportierte Schröder selbst im Willy-Brandt-Haus die Gattinnen-Kritik, fügte aber sogleich hinzu: "Heut hab ich keinen Bock. Heut hau ich drauf." Joschka Fischer hat diese Seite seines Kabinettschefs gelegentlich als "Proletenhumor" bezeichnet.

Als der Proletenhumor verflogen war, liebäugelte Schröder vorübergehend mit der berühmtem "israelischen Lösung": zwei Jahre er Kanzler, dann die Andere. Das aber spielte sich im Luftreich der Gedanken ab. "Er hat ernsthaft die israelische Lösung als Vorstellung erwogen", sagt einer seiner Vertrauten und weiß wohl, warum er dabei das Wort Vorstellung benutzt.

Längst nämlich hatte Schröder erkannt, dass die Union nicht von Frau Merkel lassen würde und Frau Merkel nicht vom Kanzleramt. Das ungefähr war der Zeitpunkt, zu dem Schröder davon sprach, dass er einer Regierungsbildung nicht im Wege stehen werde, weil es ja nicht um seine Person gehe. Wer ihn kennt, weiß, dass es ihm fast immer auch um seine Person gegangen ist.

Und hier schließt sich der Kreis zum 22. Mai, zur Neuwahl-Entscheidung, die er damals gegen den Rat von Frank-Walter Steinmeier, demnächst wohl Minister in der großen Koalition, und Joschka Fischer traf.

Schröders wahre Motivation damals entspricht seiner Ankündigung vom gestrigen Mittwoch. Er wollte hoch erhobenen Hauptes ein Amt verlassen, in dem er sich durch die politischen Entwicklungen mehr und mehr eingesperrt, ja gelähmt empfand. Seit 1999, dem ersten annus horribilis der rot-grünen Koalition, lebte Schröder nicht dauernd, aber immer wieder in der Furcht, man wolle ihn "vom Hof jagen" oder "mit den Füßen zuerst da raustragen".

Da ist für ihn das Kanzleramt. Nicht um seine Gesundheit machte er sich Sorgen, sondern er räsonierte über die Möglichkeit, dass die Partei, Teile der Partei, die Linke, die Kampagnenjournalisten ihn irgendwie absägen könnten, ihm die Würde nehmen, ihn vertreiben würden. Nicht ihnen wollte er unterliegen, sondern höchstens den Wählern, einer neuen Mehrheit. So paradox es in einer Situation klingen mag, in der die SPD mit der Union über eine große Koalition verhandelt: Schröder wollte bis relativ kurz vor der Wahl diese neue Mehrheit provozieren.

Dass es nun eine ganz andere Mehrheit geworden ist, weil die Union unter Merkel so sehr abgestürzt ist, hat Schröder ebenso überrascht wie alle anderen in Deutschland. Trotzdem aber bleibt er bei seinem ursprünglichen Entschluss. Er will sich nicht mehr in die Pflicht nehmen lassen, es geht ihm eben doch um seine eigene Person. Er hat genug.

Das gemischte Doppel

Franz Müntefering ist Schröder auf diesem Weg seit dem 22. Mai loyal gefolgt. Nun wird er wohl, zumindest für eine Übergangszeit, Schröders Erbe werden. Die beiden haben ein sonderbares Verhältnis. Sie reden viel miteinander und sie respektieren sich auch. Wären sie allerdings nicht durch die Politik zusammengeführt worden, hätten sie sich wenig zu sagen.

Schröder ist der Extrovertierte, der Egoist, der Instinktpolitiker. Müntefering dagegen ist der Parteimensch, der Wird-schon-werden-Funktionär, der durchaus eitel ist, aber, weil er Eitelkeit eigentlich für verwerflich hält, manchmal so unsicher wirkt, wie er gelegentlich ist. In diesem Sinne verbindet Müntefering wahrscheinlich mehr mit Merkel und noch mehr mit Stoiber als mit Schröder. Der wiederum trägt Müntefering nach, dass seine Leute schon früh den Eindruck erweckt hätten, als sei der Kanzler nur noch "Verhandlungsmasse" im Koalitionsspiel.

Gremienmann Müntefering

Tatsächlich ist Müntefering ein gewiefter Gremienmann, und er kann, wenn er es für nötig hält, verschwiegen sein bis zur Rätselhaftigkeit. Manchmal erinnert er an eine Sphinx, die Fragen stellt, ohne allerdings die Antworten selbst zu kennen. Ein kundiger Genosse, der Münteferings Tun seit geraumer Zeit mit Argwohn verfolgt, kleidet sein Unbehagen über den Franz in folgendes Bild: Wenn Müntefering morgens vor dem Spiegel stehe, blicke er seinen Widerschein an und sage dann: "Ich kenne Sie zwar nicht, aber ich wasche Sie vorsorglich."

Wolfgang Clement, beileibe kein Freund Münteferings, hat durch seinen Ausbruch am Montag klar gemacht, was manche an dem Partei- und Fraktionschef, der vielleicht bald Vizekanzler sein könnte, wenig schätzen. De facto haben Müntefering und Schröder Clements Ministerium beim Spitzengespräch dreingegeben, der Zerschlagung ebenso zugestimmt wie der Installierung Stoibers als Minister.

Von alledem wusste Clement nichts, und auch das erklärt, warum er im Präsidium am Montag die Verhandlungsführung der SPD so scharf kritisierte. Anders ausgedrückt: Für Müntefering war Clement schon Vergangenheit, als der sich selbst noch für Gegenwart hielt. Wen aber Müntefering für Vergangenheit hält, den behandelt er auch so.

© SZ vom 13.10.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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