Generaldebatte:Merkels neue Souveränität

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Die Bundeskanzlerin, wirklich gut aufgelegt: Sie ist kämpferisch, emotional und dabei noch klug und witzig. Angela Merkel redet wie befreit. Wenn sie so weitermacht, wird man sie in absehbarer Zeit umso mehr vermissen.

Von Cerstin Gammelin

Normalerweise triumphiert die Opposition im Bundestag und rechtet mit der Regierung ab, wenn die Generaldebatte zum Kanzlerhaushalt angesagt ist. Weil die Zeiten aber nicht normal sind, hat an diesem Mittwoch eine absehbar scheidende Bundeskanzlerin ihrerseits das Plenum für einen fulminanten Auftritt in eigener Sache genutzt. Das war fast schon ein Vermächtnis.

Es ging dabei natürlich nicht um die Milliardenbeträge, die das Kanzleramt ausgeben darf. Es ging um die großen politischen Linien - um Migration, Europa und die deutsche Rolle in der Welt. Geradezu kühn, die rechte Hand zur Faust geballt, leitete sie das deutsche Interesse an internationalen Vereinbarungen zur Migration kristallklar her.

Weltweit 220 ausgetragene Konflikte, 68 Millionen Menschen auf der Flucht, ausgebeutete Arbeiter in Entwicklungsländern - Merkel reihte Zahlen, Daten und Fakten so zwingend aneinander, dass ihr Schlusssatz "es liegt im deutschen Interesse, auch die Interessen der anderen immer mitzudenken" klang wie das "was zu beweisen war" am Ende mathematischer Ableitungen, die man aus dem Schulunterricht kennt. Klarer kann ein Bekenntnis zum Multilateralismus nicht ausfallen.

Die Republik erlebt eine späte Kanzlerin, wie man sie vorher kaum je gesehen hat: kämpferisch, emotional und dabei noch klug und witzig. Es schaut so aus, als habe Merkel mit der Ankündigung, in absehbarer Zeit aus der aktiven Politik auszuscheiden, sich endlich die persönliche Freiheit erkämpft, ihre Überzeugungen offen zu verteidigen. So wie sie lässig die politische Konkurrenz abtropfen lässt, erinnern ihre Auftritte an Gerhard Schröder, den früheren SPD-Kanzler. Das Schöne an freiheitlichen Debatten sei ja, dass jeder über das rede, was er für wichtig hält - mit dieser treffenden ironischen Bemerkung schickte Merkel die AfD-Fraktionsvorsitzende Alice Weidel in den Keller der politischen Bedeutungslosigkeit.

Die schnurgerade Argumentation für den UN-Migrationspakt ist auch eine Ansage an die eigene Partei, sich zu entscheiden. Aus Merkels Sicht fallen die Reaktionen erfreulich aus, es gibt viel Zuspruch und keinen erkennbaren Widerstand. Das dürfte es Merkels innerparteilichem Widersacher Jens Spahn schwerer machen, auf dem CDU-Parteitag über den Pakt abstimmen zu lassen und zu gewinnen. Spahn hat diesen Vorschlag mit dem klaren Kalkül gemacht, sich im Rennen um Merkels Nachfolge einen Vorteil zu verschaffen. Lehnt der CDU-Parteitag den Pakt ab, ist nicht nur die Nachfolge für den CDU-Vorsitz zu klären, sondern auch für das höchste Regierungsamt. Merkel weiß, dass sie nach ihrem klaren Bekenntnis zum Pakt eine Abstimmungsniederlage nicht wird aussitzen können.

Vor zwei Jahren hat der scheidende US-Präsident Barack Obama die deutsche Kanzlerin gebeten, im Amt weiterzumachen, um die freiheitlichen Werte der westlichen Welt zu verteidigen. Lange Zeit hatte man dann den Eindruck, als würde Merkel an dieser Aufgabe scheitern. Inzwischen sieht es so aus, als habe sie sich die persönliche Freiheit schaffen müssen, um sich dann um die Freiheit der anderen kümmern zu können.

Je mehr sie das in souveräner Manier und mit kühl-schlagfertiger Argumentation tut, desto mehr wird man sie eines Tages vermissen.

© SZ vom 22.11.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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