Geiselnahme in Russland:Wachstumsfaktor Grausamkeit

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Groß, medienwirksam, rücksichtslos - nach der Lehre al-Qaidas wird der Terror immer maßloser.

Von Nicolas Richter

Als Osama bin Laden noch bescheidene Ziele hatte, wollte er zunächst nur die US-Armee aus Saudi-Arabien vertreiben - aus seiner Heimat, die er "Land der beiden heiligen Moscheen" nannte.

Anfang 1997 wollte ein CNN-Reporter von ihm wissen, ob er es auf das Militär oder generell auf Amerikaner abgesehen habe, und er sagte: "Wir zielen auf die Soldaten."

Ein Jahr später bereits definierte er die Ziele ganz anders. Da gründete er die "Internationale Islamische Front für Dschihad gegen Juden und Kreuzritter" und rief jeden Muslim dazu auf, "die Amerikaner zu töten und ihr Geld zu plündern, wo immer und wann immer sie können".

Ausdrücklich erklärte er einem ABC-Reporter: "Wir unterscheiden nicht zwischen Militär und Zivilisten. Nach unserer Meinung sind sie alle Ziele."

Begründung: "Amerika hat nie unterschieden zwischen Soldaten und Zivilisten, Männern und Frauen, Erwachsenen und Kindern. Es waren Amerikaner, die auf Nagasaki und Hiroshima Atombomben geworfen haben."

Synagogen, U-Bahnen, Züge

Bald folgten Taten, Anschläge auf US-Botschaften in Ostafrika, auf das Kriegsschiff Cole im Hafen von Aden, und sie gipfelten am 11. September 2001 in einem Angriff, der nicht unterschied zwischen Alt und Jung, Zivilisten und Militärs.

Islamistisch motivierte Anschläge häufen sich, Orte wie Djerba, Bali, Istanbul, Riad, Mombasa, Casablanca, Moskau, Jerusalem und Madrid haben gemeinsam, dass sie alle von Terroristen heimgesucht werden.

Es trifft Synagogen, Botschaften, Restaurants, U-Bahnen und Züge. Osama bin Laden und sein Al-Qaida-Netzwerk haben gewiss nicht jede dieser Taten in Auftrag gegeben oder finanziert, aber sie haben die Richtung vorgegeben für einen Terror, der immer maßloser wird, immer unberechenbarer, immer mörderischer.

Der tschetschenische Terrorismus in Russland ist ein Beispiel dafür. Mag die russische Regierung auch beschwören, dass sie es in Tschetschenien nicht nur mit Unabhängigkeitskämpfern, sondern auch in erheblichem Maße mit dem islamistischen Terror der Al-Qaida-Anhänger zu tun habe, so handelt es sich doch in erster Linie um einen regionalen Konflikt.

Hilfe von Waffenbrüdern

Unbestritten ist allenfalls, dass die muslimischen Kämpfer Hilfe von Waffenbrüdern aus arabischen Ländern oder aus Europa bekommen. Auch fließt aus diesen Staaten Geld, über Wohltätigkeitsorganisationen und Stiftungen, für den Kampf der Muslime gegen ihre Unterdrücker.

Allerdings setzen auch regionale Kämpfer zunehmend die Lehren des weltweiten Al-Qaida-Terrors um, möglichst groß, medienwirksam und rücksichtslos zuzuschlagen.

So werden im Herbst 2002 sämtliche Besucher eines Musicaltheaters in Moskau als Geiseln genommen. Die Aufmerksamkeit der ganzen Welt ist über Fernsehen und Internet tagelang gesichert, der Schock groß und am Ende auch die Zahl der Opfer hoch.

Steigerung des Schreckens

Dass jetzt in Russland nicht ein Flugzeug entführt, sondern gleich zwei simultan in der Luft gesprengt werden, passt in dieses Muster der steten Steigerung des Schreckens.

Die Idee stammt von dem mittlerweile festgenommenen Al-Qaida-Planer Chalid Scheich Mohammed, der auch die Anschläge vom 11. September organisiert hat. Extremisten eifern ihm nach, wo es gerade passt.

Direkte Befehle al-Qaidas sind längst überflüssig. Im neuen Terror ist alles erlaubt, und die Ideen scheinen nie auszugehen. Im Internet wird das Bild eines in Saudi-Arabien geköpften Amerikaners verbreitet.

In Nordossetien stürmen Bewaffnete nun eine Schule und nehmen zahlreiche Kinder, Eltern und Lehrer als Geiseln.

Die neuere Geschichte der Selbstmordanschläge - wie am Dienstag wieder in Moskau - zeigt, wie sich terroristische Ideen weltweit verbreiten. Anfang der Achtzigerjahre fing die libanesische Hisbollah damit an, 1987 begann es in Sri Lanka, 1994 in den Palästinensergebieten, bald auch in der Türkei, in Kaschmir und in Tschetschenien.

Die Hisbollah konzentrierte sich damals auf militärische Ziele, also auf das israelische Militär oder auf die US-Armee, die bei einem einzigen Selbstmordanschlag auf ihren Stützpunkt in Beirut 1983 mehr als 240 Todesopfer hinnehmen musste. Letztlich führte dies zum Rückzug der Amerikaner aus dem Libanon.

"Schlacht zum Feind bringen"

Al-Qaida zog in den Neunzigerjahren ihre Lehren daraus und beseitigte dabei einige Beschränkungen. Die Anhänger des Islam hatten die "Ungläubigen" nun weltweit zu bekämpfen, und potenzielles Opfer war jeder, nicht nur ein Soldat.

Al-Qaidas Chefideologe Aiman al-Sawahiri formulierte einmal einen Satz, der Leitmotiv für den modernen Terror sein könnte, egal ob in Riad, Madrid oder Moskau: "Wir müssen die Schlacht zum Feind bringen", schrieb er, "die einzige Sprache, die der Westen versteht, ist es, möglichst viele Menschen zu töten."

© SZ vom 2.9.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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