Gastkommentar :Alles für das Kindeswohl

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(Foto: N/A)

Fehlerhafte Gutachten vor Familiengerichten haben katastrophale Folgen. Deutschland muss mehr in seine Gutachter investieren.

Von Anja Kannegießer

Familiengerichte müssen sich jedes Jahr in Zehntausenden Verfahren mit dem Sorgerecht und dem Umgang von Eltern mit ihren Kindern befassen. Dabei fordern sie Tausende Gutachten an, die oft darüber entscheiden, wie der Richterspruch ausfällt. Vor Familiengerichten geht es nur selten um schwarz oder weiß, um schuldig oder unschuldig im Sinne des Strafrechts.

Stattdessen müssen Familienrichter über Kompetenzen, Beziehungen und Bindungen von Kindern, ihren Eltern, anderen Bezugspersonen befinden. Und immer wird dabei um das Kindeswohl gerungen. Die Verantwortung der von den Gerichten bestellten Experten ist immens, wenn sie zum Beispiel begutachten sollen, ob ein Kind besser bei den leiblichen Eltern bleibt oder ob es eher von Fremden großgezogen werden soll. Familien können durch ein falsches Gutachten zerstört werden, Kinder ihrem Martyrium ausgesetzt bleiben, Väter und Mütter ein Leben lang gebrandmarkt sein. Eigentlich kann daraus nur folgen: Gutachten müssen fehlerfrei sein.

Klar ist aber auch, dass sie es nicht immer sein können. Natürlich kann kein Gutachter dieser Welt in die Köpfe der Beteiligten schauen. Umso wichtiger ist es, dass bestellte Experten das bestmögliche fachliche Handwerkszeug und die bestmögliche Qualifikation haben. Hierzu fehlen bisher allerdings verbindliche Standards. Zu oft werden vermeintliche Experten mit der Begutachtung beauftragt, die weder eine geeignete Grundausbildung noch eine Zusatzqualifikation für Fragen des Familienrechts haben. Ein Universitätsabschluss allein reicht eben nicht. Notwendig ist eine auf Gutachtertätigkeit fokussierte Qualifikation mit vielen Praxiselementen. Lernen im Austausch mit und von den Erfahrungen anderer ist entscheidend - ein wichtiges Element zur Qualitätssicherung bei Gerichtsgutachten.

Der letzte Lehrstuhl für Rechtspsychologie wurde 2009 abgeschafft

Auch die große Koalition in Berlin sah sich veranlasst zu handeln. Im Koalitionsvertrag heißt es, dass man "in Zusammenarbeit mit den Berufsverbänden die Qualität von Gutachten insbesondere im familiengerichtlichen Bereich verbessern" wolle. Inzwischen liegt auch ein Gesetzentwurf zur Reform des Sachverständigenrechts vor, der unter anderem die Qualifikation von Gutachtern festschreibt. Er soll noch in diesem Sommer verabschiedet werden. Gleichzeitig brachte das Bundesjustizministerium Berufs- und Standesvertreter an einen Tisch, um gemeinsam die "Mindestanforderungen an Gutachten im Kindschaftsrecht" zu erarbeiten. Diese Mindeststandards liegen nun vor.

Aber das ist eben nur das Mindestmaß. Neben Mindeststandards und einer spezifischen Ausbildung muss die einschlägige Forschung entscheidend vorangetrieben werden. Erst dann kann die Qualität nachhaltig besser werden. Gutachten können nur so gut sein, wie Gutachter für ihre Empfehlungen auf fundierte Forschungsergebnisse zurückgreifen können.

Hier sind wir von einem Optimum noch Jahrzehnte entfernt. Rechtspsychologische Forschung ist in den vergangenen Jahrzehnten regelrecht ausgetrocknet worden. Der letzte Lehrstuhl dieser psychologischen Fachrichtung ist 2009 an der Charité Berlin ersatzlos gestrichen worden. Kein einziges der gut 50 psychologischen Institute an deutschen Universitäten verfügt über eine eigenständige Professur für Rechtspsychologie.

Forschung, die für familienrechtliche Gutachten relevante Ergebnisse produziert, findet nur noch punktuell statt. Geforscht wird oft nur im klinischen Bereich ohne Bezug zur Gutachtenpraxis. Klinische Forschung ist zweifellos wichtig, die Qualität von Gutachten wird dadurch aber nicht systematisch verbessert. Viele Maßnahmen, die im Sinne des Kindeswohls gerichtlich angeordnet werden, sind immer noch nur unzureichend erforscht. Das Bundesverfassungsgericht hat es gerade für Fälle von Fremdunterbringung dokumentiert: Bevor ein Kind bei Pflegeeltern oder in einer Einrichtung untergebracht wird, muss die Gefährdung des Kindeswohls ganz konkret festgestellt werden. Dazu müssen wir mehr wissen: Wie entwickeln sich Kinder, wenn sie nach der Entscheidung eines Familiengerichts von ihren leiblichen Eltern getrennt werden? Welche Kriterien spielen eine Rolle, um die Kinder wieder zu ihren Familien zurückzulassen? Welche diagnostischen Instrumente helfen uns, transparente und valide Informationen für ein Gutachten zu gewinnen?

Außerdem werden diagnostische Verfahren und Beurteilungskriterien noch viel zu wenig auf der Basis nationaler und internationaler Forschungsergebnisse weiterentwickelt. Und nicht zuletzt sind Forschung und Praxis noch nicht so vernetzt, wie es nötig wäre. Solange sich hier nichts ändert, kann eine nachhaltige Verbesserung der Qualität familienrechtlicher Gutachten nicht erwartet werden. Bildungs- und Haushaltspolitiker des Bundestages haben Vorschläge auf dem Tisch, wonach Mittel für die Forschung zur Verbesserung von Rechtsgutachten in den kommenden Bundeshaushalt einzustellen sind.

Aber auch hier ist der Drang wieder groß, klinische Forschung in den Vordergrund zu stellen. Dabei spielen Krankheiten in familiengerichtlichen Verfahren eine untergeordnete Rolle. Die Beteiligten sind in der Regel nicht psychisch krank, sondern haben vielschichtige Probleme in besonderen Lebenssituationen. Wir brauchen interdisziplinäre Forschung in Kooperation mit Partnern aus der Praxis. Rechtspsychologische Fragen und juristische Aspekte müssen dabei gleichermaßen berücksichtigt werden. Denn Recht und Gesetz bestimmen schließlich den normativen Rahmen gutachterlicher Empfehlungen.

Was wir brauchen, sind umfangreiche, gutachtenrelevante Forschungsimpulse. Die Rechtspsychologie muss in Deutschland systematisch und gezielt wiederaufgebaut und als unabhängige, interdisziplinäre und praxisnahe Wissenschaft in Forschung und Lehre verankert werden. Nur das kann sicherstellen, dass wir perspektivisch genügend qualifizierte Gutachter ausbilden, die auf der Basis aktueller Erkenntnisse Empfehlungen aussprechen. Erst dann erreichen wir das angestrebte Ziel, nachhaltig sinnvolle Lösungen zum Wohl der Kinder und ihrer Familien zu finden.

Anja Kannegießer , 43, ist als Rechtsanwältin und forensische Sachverständige zu familien- und aussagepsychologischen Fragen für Gerichte und Staatsanwaltschaften tätig.

© SZ vom 14.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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