Gastkomentar:Türkisches Dilemma

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Die neue Bundesregierung sollte sich keine Illusionen machen: Solange Erdoğan an der Macht ist, bleibt in den gegenseitigen Beziehungen nur Schadensbegrenzung. Je mehr er seine Macht im Inneren festigt, desto erratischer wird die Außenpolitik.

Von Yavuz Baydar

Das große Paradoxon im Durcheinander türkischer Politik lautet: Je mehr Präsident Recep Tayyip Erdoğan seine Macht festigt, desto instabiler wird seine Außenpolitik. Darüber scheint es international einen breiten Konsens zu geben. Vor der deutschen Bundestagswahl ist diese Politik so unberechenbar geworden, dass einige Kommentatoren - etwa Marc Pierini von Carnegie Europe oder Steven Cook vom Council on Foreign Relations in New York - das Verhältnis der Türkei zu den westlichen Partnern schon als "schurkenhaft" bezeichnen.

Das hat mit dem genannten Paradoxon zu tun: Fast die gesamte Innen- und Außenpolitik werden von den Interessen Erdoğans, und nicht denen der Türkei bestimmt. Angesichts einer Flut von Vorwürfen über Korruption und des Bruchs internationalen Rechts ist Erdoğan in Schwierigkeiten, und er weiß es.

Zum einen gab es den Fall der Lastwagen, mit denen Waffen für Dschihadisten nach Syrien transportiert werden sollten. Wegen der Berichterstattung darüber werden die Journalisten der Zeitung Cumhuriyet drangsaliert. Zum anderen nährt die Verhaftung von Journalisten - darunter dem Deutsch-Türken Deniz Yücel - in Zusammenhang mit dem sogenannten "Redhack"-Prozess den Verdacht, dass es korrupte Machtspiele gibt, von denen Erdoğan gewusst haben muss. In dem Fall ging es um E-Mails auf dem privaten Account von Energieminister Berat Albayrak, Erdoğans Schwiegersohn. Noch wichtiger ist der Prozess in einem Fall des organisierten Verbrechens, der diesen Monat an einem Bundesgericht in New York beginnt. Angeklagt sind der iranisch-türkische Goldhändler Reza Zarrab, der gute Verbindungen zum Präsidenten hat, sowie ein früherer Minister aus Erdoğans Kabinett, Zafer Çağlayan. Der Vorwurf: Umgehung von Sanktionen gegen Iran, ein Fall, der sich im Epizentrum von Erdoğans Außenpolitik abgespielt hat.

Alles, was in den vergangenen Jahren passiert ist, die massive Kritik an Deutschland und den Niederlanden im Sommer, die, wie Kritiker es nennen, "Geiselnahme von Journalisten und Aktivisten", die blutigen Ausschreitungen vor der türkischen Botschaft in Washington, die Verhaftung eines Mitarbeiters der US-Botschaft in Ankara - all das findet seinen Höhepunkt in diesem Prozess, der immer mehr zum Albtraum für den türkischen Präsidenten wird. Viele Beobachter haben die Tragweite des Falls Zarrab nicht verstanden, weil sie die Logik von Erdoğan nicht verstehen: Er nimmt jeden Widerstand persönlich, und wenn er offen angegriffen wird, ergreifen seine Familie oder "seine Männer" archaische Gegenmaßnahmen, die die Codes internationaler Diplomatie verletzen. Deshalb haben diese Prozesse gegen Journalisten in Istanbul und gegen den Goldhändler in New York solches Gewicht, und deshalb ist vieles andere für die türkischen Politik zweitrangig.

Erdoğan hat alle Mittel in der Hand um zu verhindern, dass er sein Amt verliert

Der Fall Zarrab zeigt aber auch exemplarisch, dass man die Wahrheit nicht unterdrücken kann, auch wenn man sie sich wegwünscht. Erdoğan gelang es zwar, zu Hause die Sache zu vertuschen. Er schaffte es mit Hilfe unterwürfiger Medien die türkische Gesellschaft davon zu "überzeugen", dass die Vorwürfe gegen Zarrab eine Erfindung einiger der Gülen-Bewegung nahestehender Strafverfolger seien. Aber als sich die amerikanische Justiz des Falles annahm, war klar, dass Erdoğans eigene Erzählung jenseits der türkischen Grenzen keine Chancen haben würde.

Um eine Metapher zu verwenden: Man sieht einen Brandstifter und ein paar Feuerwehrleute, die unfähig oder zu furchtsam sind, um das Feuer zu löschen. So kommt es, dass innerhalb der Regierung das Gefühl wächst, dass Erdoğan zur Belastung geworden ist, wenn man ein Mindestmaß an Rationalität in der Innen- und Außenpolitik bewahren will. Die gemischten Signale, die Premier Binali Yıldırım und einige andere Minister aussenden, zeigen, dass sich diese Wahrnehmung auch in den obersten Reihen der AKP durchgesetzt hat. Und dass es eine Kluft zwischen dem "Palast" - umlagert von Speichelleckern - und der Führung der Partei gibt.

Diese Beobachtung wird nicht offen ausgesprochen, sondern in privaten Gesprächen der herrschenden Parteielite in Ankara und unter Geschäftsleuten in Istanbul geflüstert. Aber sie brachte auch jene, die Erdoğan schon früher als Belastung erkannt hatten, ihren westlichen Partnern wieder etwas näher. Aber es ist eine Sache, sich über einen Sachverhalt klar zu werden, eine ganz andere ist es, wie die Massen einen willensstarken Anführer wahrnehmen. Zwar stimmt es, dass Erdoğan die Türkei nicht mehr ohne Ausnahmezustand regieren kann, aber zwei Dinge immerhin kann er kontrollieren: alle staatlichen Institutionen, die Justiz, die Medien und die Wissenschaften. Bei Meinungsumfragen hat er zwischen 38 und 49 Prozent der Bevölkerung hinter sich - und es gibt keine Alternative zu ihm. Der Einzige, der ihm gefährlich werden könnte, der charismatische kurdische Politiker Selahattin Dermitaş, sitzt im Gefängnis. Die Logik sagt einem, dass Erdoğan alle Instrumente in der Hand hat, um zu verhindern, dass er auf demokratische Weise aus dem Amt vertrieben werden kann. Und Tatsache ist auch, dass er in machiavellistischem Pragmatismus eine neue Allianz eingegangen ist mit der militaristischen, antikurdichen, antiwestlichen alten Garde, das macht die Aussichten noch düsterer.

Wie also soll man mit der Türkei umgehen? Die Antwort ist relativ einfach. Wegen der immensen politischen Rückschritte erfüllt die Türkei nicht mehr die Kopenhagener Kriterien für EU-Beitrittskandidaten. Es sieht so aus, als gäbe es keinen schnellen Weg zu normalen Beziehungen, so lange der starke Mann der Türkei die Macht hat, ohne dass ein demokratischer Herausforderer in Sicht ist. Alles, was Berlin tun kann, ist Schadensbegrenzung.

Yavuz Baydar , 61, ein türkischer Journalist, ist Chefredakteur von Ahval , einem dreisprachigen Nachrichtenportal über die Türkei. Aus dem Englischen von L. Hampel und N. Piper.

© SZ vom 11.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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