Gastbeitrag:Überholtes Wahlsystem

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Die US-Wahl wird offensichtlich wieder ähnlich knapp wie 2000. Wieder ist denkbar, dass der Kandidat mit weniger Wählerstimmen dennoch mehr Wahlmännerstimmen gewinnt und so Präsident wird. Warum das so ist und welche Reformvorschläge wie realistisch sind.

Von Sebastian Brökelmann

Die großen Probleme des US-amerikanischen Wahlmännersystems wurden bei den Wahlen vor vier Jahren offensichtlich: Es kann deutliche Diskrepanzen zwischen der Wählerentscheidung und dem Wahlmännervotum geben. Al Gore bekam landesweit die meisten Wählerstimmen, doch es war George W. Bush, der die Mehrheit im Wahlmänner-Kollegium erreichte.

Sebastian Brökelmann (Foto: Foto: privat)

Die Fokussierung der Kandidaten auf Staaten, in denen Demoskopen keine klare Entscheidung prognostizieren können, ist ein weiterer Nachteil. Den Interessen der anderen Bundesstaaten wird im Wahlkampf wenig Beachtung geschenkt, was in der Folge häufig zu einer unterdurchschnittlichen Wahlbeteiligung in solchen Bundesstaaten führt.

Föderalismus in den USA sehr wichtig

Dennoch ist das Prinzip der Präsidentenwahl auf bundesstaatlicher Ebene aufgrund der Heterogenität der US-Bundesstaaten weiter adäquat. Ansonsten würden aufgrund der Bevölkerungszahlen allein die Küstenstaaten über die Bundespolitik entscheiden. Die bundesstaatliche Wahl schützt also insbesondere die bevölkerungsärmeren (und zumeist wirtschaftlich rückständigeren) Bundesstaaten im Landesinneren.

Außerdem spielt der Föderalismus der USA mit der starken Stellung der Bundesstaaten eine große Rolle. Die Abschaffung der indirekten Wahl auf Bundesstaatenebene würde das Verhältnis zwischen der Bundesexekutive und den Bundesstaaten drastisch verändern. Eine landesweite einheitliche Direktwahl ist daher gegenwärtig weder sinnvoll noch denkbar.

Zu hinterfragen ist allerdings das konkrete Wahlmännersystem. Im Gegensatz zur bundesstaatlichen Wahl besteht das Wahlmännersystem primär aus Tradition heraus, andere gewichtige Gründe und Notwendigkeiten lassen sich nicht identifizieren.

Wahlmännersystem aus Tradition

Jedoch ist die Bedeutung dieser Tradition nicht zu unterschätzen: Befürworter führen zum Beispiel an, dass sich das Wahlmännersystem seit 200 Jahren bewährt hat und politische Stabilität und Handlungsfähigkeit garantiert, zum Beispiel durch die Stärkung des Zwei-Parteiensystems.

Das electoral college als Versammlung der Wahlmänner und -frauen geht auf einen über 200 Jahre alten Artikel der Verfassung zurück (Art. II in Verbindung mit dem 12th amendment). Die Delegierten der Constitutional Convention trauten der breiten Bevölkerung aufgrund des schlechten Informationsflusses zwischen der Hauptstadt und entfernteren Gebieten keine intelligente Wahlentscheidung zu.

Deshalb schufen sie die Zwischenebene der Wahlmänner, die besseren Kontakt zu und Informationsaustausch mit den Bürgern in ihrem Wahlkreis hatten. Das Argument des mangelhaften Informationszugangs ist jedoch im heutigen Informationszeitalter nicht mehr haltbar. Auch stellen die geographischen Distanzen heute keinerlei Problem für die Wahlen mehr dar.

Benachteiligung kleiner Parteien

Das electoral college ist auch deshalb überholt, weil das Volk zwar in der Theorie nur die Wahlmänner wählt und diese dann den Präsidenten bestimmen. Im Gegensatz zu 1789 ist das Volk heutzutage jedoch weitgehend über die Präsidentschaftskandidaten und die verschiedenen Politikprogramme informiert oder hat sich bereits aus anderen Gründen auf einen der Kandidaten festgelegt.

Die Wahlmänner entscheiden ihrerseits somit auch nur noch theoretisch frei, in der Praxis aber durchweg partei- bzw. kandidatengebunden und haben demnach nur noch eine unnötige Mittlerfunktion.

Noch wichtiger ist eine Änderung des einfachen Mehrheitsprinzips auf Bundesstaatenebene, das heißt des Prinzips "the winner takes it all". So erhielt George W. Bush 2000 in Florida alle 25 Wahlmännerstimmen, obwohl er offiziell nur 537 Stimmen Vorsprung vor Al Gore hatte - bei insgesamt mehr als 5,4 Millionen abgegebener Stimmen! Und auch dieser Vorsprung ist bekanntlich sehr umstritten.

Ein Problem des einfachen Mehrheitswahlrechts ist darüber hinaus die Benachteiligung kleiner Parteien; sie haben oftmals keine realistische Chance, Wahlmänner für sich zu gewinnen, und nehmen somit in den Augen großer Bevölkerungsteile nur den beiden großen Parteien und ihren Kandidaten Stimmen weg. Diesen Vorwurf muss sich insbesondere Ralph Nader von den Grünen in diesem Jahr wie schon vor vier Jahren gefallen lassen.

Colorado stimmt über Verhältniswahlrecht ab

Die Einführung eines Verhältniswahlrechts auf Bundesstaatenebene würde das eigentliche Stimmverhalten der Bevölkerung wesentlich genauer wiedergeben - einheitliche Wahlgesetze in den Bundesstaaten und nicht wie bislang von county zu county unterschiedliche Gesetze vorausgesetzt.

Gleichzeitig würde die Bedeutung von dritten Parteien und ihren Kandidaten steigen und sie würden nicht mehr nur den großen Parteien die Stimmen "wegnehmen". Ansätze hierzu gibt es bereits: Die Bundesstaaten Maine und Nebraska verteilen ihre Stimmen im electoral college nach relativen Mehrheitsgesichtspunkten.

In Colorado steht mit der Proposition 36 am 2. November 2004 für die Bürger des Bundesstaates ebenfalls die Einführung der proportionalen Wahlmännerbesetzung zur Abstimmung. Wird die Proposition 36 angenommen, so werden die neun Stimmen Colorados im electoral college proportional zum Wahlergebnis zwischen Kerry und Bush aufgeteilt.

Die flächendeckende Einführung eines solchen relativen Mehrheitswahlsystems ist allerdings momentan nur schwer durchsetzbar, da die Sitzverteilung im electoral college anschließend insbesondere bei bevölkerungsärmeren Bundesstaaten zu starken Proporzverzerrungen führen kann.

Verfassungsänderung unrealistisch

Gewinnt einer der beiden Kandidaten z. B. in Delaware mit 3 Stimmen im electoral college die Wahl mit äußerst knappem Vorsprung, so würde die relative Stimmaufteilung im electoral college dann entsprechend bei 2 zu 1 Stimmen zu 100 Prozent mehr Stimmgewicht des einen Kandidaten führen. Das wäre aber immer noch besser als ein 3:0 wie es bisher der Fall ist.

Für eine derartige Änderung des US-Wahlsystems sind in der Praxis große politische und juristische Hürden zu überwinden. So bedarf eine Änderung oder Abschaffung des electoral colleges einer Verfassungsänderung - und diese könnten die kleineren Bundesstaaten aufgrund ihrer proportionalen Überrepräsentierung im US-Senat verhindern.

Weder im Senat noch im Abgeordnetenhaus wäre eine zwei Drittel Mehrheit für die Verfassungsänderung realistisch. Deshalb gibt es in den USA auch keinen politischen Willen, das Wahlmännersystem abzuschaffen. Ein abermaliger Ausgang wie 2000 - der ein Sieg des Kandidaten mit weniger Wähler- aber mehr Wahlmänner-Stimmen - könnte die Stimmungslage ändern.

© Sebastian J. Brökelmann ist Research Fellow für transatlantische Beziehungen am Centrum für angewandte Politikforschung, München - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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