Frauen:Zeugnisse der Scham und Wut

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Mit rosa Luftballons und kämpferischen Bannern protestierten Frauen und Männer am Samstag, dem Internationalen Tag zur Beseitigung der Gewalt gegen Frauen, in der italienischen Hauptstadt. (Foto: Tiziana Fabi/AFP)

Das italienische Abgeordnetenhaus wird für einen Tag zum Forum für den Kampf gegen Gewalt an Frauen. Rednerinnen rufen dazu auf, das Schweigen zu brechen. Frankreichs Präsident stellt einen Aktionsplan vor.

Von Oliver Meiler, Rom

Von hoch oben aus der Reporterloge im Palazzo Montecitorio wirkt alles, als wäre es wie immer an wichtigen Tagen. Die Ränge in der italienischen Abgeordnetenkammer sind voll. Livrierte Bedienstete weisen ein, reichen Notizblätter. Es wird über die Bänke hinweg geherzt, gelacht, geplaudert. Dabei ist nichts wie sonst. Nicht einmal der Geräuschteppich. Er wummert nicht dumpf. Der Sound ist feiner, greller, eine Oktave höher. Im Saal sitzen nur Frauen, auf allen 630 Plätzen. Auch unter der Empore der Präsidentschaft, wo sich sonst Minister den Deputierten stellen, Männer vor allem, sitzen nur Frauen. Sogar die livrierten Parlamentsdiener: alles Frauen. Geladen hat die Präsidentin der "Camera", Laura Boldrini. "Care amiche", sagt sie, "liebe Freundinnen, das Land kann nicht mehr so tun, als höre es uns nicht."

Statt der geplanten 630 haben sich 1400 Teilnehmerinnen angemeldet. Alle Säle sind voll

Von allen Kundgebungen und Märschen, die am Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen organisiert wurden und in vielen europäischen Großstädten Zehntausende Menschen auf die Straßen getrieben haben, war diese Veranstaltung im italienischen Parlament vielleicht die bewegendste und symbolisch stärkste - eine Premiere außerdem. Nie zuvor in der Geschichte der Republik hatte es das gegeben, dass nur Frauen in der Aula von Montecitorio saßen. #InQuantoDonna hieß die Initiative, #AlsFrau. Und wie so viele Initiativen und Kampagnen für die Rechte und zum Schutz der Frauen in den vergangenen Jahren war auch diese eine Idee der parteilosen Laura Boldrini. Ihre gesamte Amtszeit als Vorsitzende des Abgeordnetenhauses, die nach fünf Jahren nun bald endet, steht im Zeichen dieses Kampfes. Sie erfährt dafür viel Hass im Netz. Auch diesmal hieß es wieder, "la Boldrini" betreibe Werbung für sich selbst, das sei doch nur Wahlkampf, reine Symbolik.

"Oh ja", sagt sie in ihrer Eröffnungsrede, "natürlich ist diese Sondersitzung des Parlaments ein Symbol, doch es ist ein wichtiges Symbol." Statt der geplanten 630 Frauen haben sich 1400 angemeldet. Alle Nebensäle sind voll. Diesmal hat Laura Boldrini es auch geschafft, dass das staatliche Fernsehen Rai live überträgt, und zwar die ganze Veranstaltung.

Es ist ein langer Reigen von Zeugnissen. Vorgetragen von Frauen, von denen manche ihre Angst überwinden müssen, manchmal auch ihre Scham, um in der Öffentlichkeit zu reden. Vor der Kamera. Den Auftakt macht Serafina Strano, eine Ärztin aus Trecastagni bei Catania. In einer Nachtschicht vor einigen Wochen wurde sie von einem Patienten überrascht, brutal geschlagen und mehrmals vergewaltigt. Sie war gefangen in einem Zimmer, stundenlang. Dann gelang es ihr, sich zu befreien, sich zu retten. Die italienischen Medien berichteten breit über den Fall, er hat die Italiener berührt. Bilder von Serafina Strano gab es aber keine.

Macron verspricht schärfere Gesetze und mehr Geld. Sexismus soll ein Thema werden

Nun ist sie zum ersten Mal bereit, sich öffentlich zu zeigen. Die Kameras suchen den Saal ab, als ihr Name aufgerufen wird, hin und her. Dann geht an einem Mikrofon in der vierten Reihe im Block unten rechts, in dem sonst die Linke sitzt, ein kleines rotes Licht an, und da steht eine Frau mit einem Manuskript. "Ich habe entschieden, mich zu zeigen", sagt sie und ihre Stimme bricht, "ich habe die Terrornacht überlebt." Der Saal macht ihr Mut mit einem langen Applaus. Darum gehe es, sagen alle Rednerinnen - die Soziologin, die Richterin, die Schauspielerin, die Leiterin von Heimen für misshandelte Frauen, die Nigerianerin, die wie eine Sklavin gehandelt wurde: Dass man sich gegenseitig Mut mache, das Schweigen zu brechen. Sie nennen es Schwesterlichkeit.

Noch immer, sagt Boldrini, wird ein Großteil der Gewalttaten nicht angezeigt, nicht einmal Vergewaltigungen. "Ihr müsst eure Peiniger anzeigen", sagt sie und wird dabei richtig laut. "Anzeigen müsst ihr sie!" Es sei endlich Zeit, dass sich die Frauen nicht mehr wie eine kleine Minderheit aufführten: "Wir sind 51 Prozent der italienischen Gesellschaft, wir sind die Mehrheit." In Italien werden laut Statistik nicht mehr Gewalttaten gegen Frauen begangen als in anderen europäischen Ländern: Italien liegt ungefähr im Durchschnitt. Es wird aber mittlerweile mehr darüber gesprochen. Von den 84 Frauen, die im laufenden Jahr umgebracht wurden, sind mehr als die Hälfte vom Ehemann oder dem Ex ermordet worden. Boldrini spricht von "Gewalt, die sich als Liebe travestiert". Es brauche bessere Gesetze, sagt sie: "Doch Gesetze reichen nicht aus, die Frage ist eine kulturelle."

Von "Horror und Scham" sprach Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. In seiner Rede zum Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen stellte er einen Aktionsplan mit schärferen Gesetzen und mehr Mitteln vor. Das Budget des Ministeriums für die Gleichstellung werde um 13 Prozent erhöht. An den Schulen solle aufgeklärt werden, was der Sexismus aus einer Gesellschaft mache. In allen Krankenhäusern solle es zukünftig eine Abteilung geben, in der misshandelte Frauen psychologischen Beistand erhalten. Für Frauen, die sich nicht trauen, die Gewalttaten anzuzeigen, solle eine Onlineplattform geschaffen werden. Sie sollen reden können.

In Italien stand ihnen dafür einmal die Parlamentsaula offen. Symbolisch. Und wichtig.

© SZ vom 27.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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