Französischer Wahlkampf:Ruf nach dem Führer

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"La Grande Nation" steckt in antiken Grabenkämpfen fest: Republikanismus vs. Kommunitarismus, Revolution vs. Reform. Die beiden großen Parteien reiben sich in Personalkriegen auf, das Potential der Neofaschisten liegt bei 20 Prozent. Dem Populismus ist Tor und Tür geöffnet.

Clemens Pornschlegel

Wer wissen will, in welchem Klima der aktuelle französische Präsidentschaftswahlkampf stattfindet, lässt am besten die vergangenen anderthalb Jahre kurz Revue passieren. Im Mai 2005 sagten 55 Prozent der Wähler "Nein" zur europäischen Verfassung. Die Linke hatte imaginär über den "Ultraliberalismus" triumphiert, die Rechte, ebenso imaginär, die nationale Souveränität gerettet.

Nebenbei hatte man Chirac einen Denkzettel verpasst. Man träumte danach von der besseren Zukunft, ob nationalistisch oder internationalistisch. Dann fuhr man in die Ferien, und als man im September zurückkam, war grauer Alltag. Er wurde immer grauer. Im Herbst brannten die Vorstädte, zuletzt wurden Gesetze aus dem Algerien-Krieg reaktiviert und Ausgangssperren verhängt.

Um nicht tatenlos dazustehen, blies Premierminister Dominique de Villepin zum letzten Gefecht gegen die Jugendarbeitslosigkeit und zauberte den "Erstanstellungsvertrag" (CPE) aus der Schublade. Der Plan ging so: Wenn man den Unternehmen das Kündigen leichter macht, geben sie den Jugendlichen aus den Banlieues leichter Arbeit. Leider hatte er dabei die braven Mittelschichtskinder mitsamt Eltern übersehen. Mit dem Auto-Anzünden hatten die ja gar nichts zu tun gehabt! Weshalb sie auch nicht einsehen wollten, wieso auf ein Uni-Studium eine endlose Probezeit folgen sollte.

Wahlkampf seit September

Es gab Streiks und Universitätsschließungen, am Ende hielt Chirac eine TV-Ansprache, Villepin durfte sein Projekt begraben. Am Tag danach fegte schon die "Clearstream-Affäre" durch die Ministerien und Medien. Der Clan um Chirac-Villepin hatte offenbar fiktive Schwarzkonten von Politikern geheimdienstlich ausspioniert, so auch das nicht existierende Konto des Erzfeindes Sarkozy, der Anzeige erstattete. Eine Wolke aus Rufmord und Verschwörung legte sich über Paris, bis die rettende Sommerpause kam. Im September war die Sache wieder vergessen. Seither ist Wahlkampf.

Dass er in einer angespannten Situation stattfindet, ist deutlich. Ökonomen, Soziologen und Politologen sind sich einig: Es sieht nicht gut aus. Das Bildungssystem ist pathologisch fixiert auf die Elite der "Grandes Écoles" und speist die Massen mit Massendiplomen ab; die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie ist angeschlagen, seit 2000 stagniert die industrielle Produktion; auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt herrschen Bedingungen, die Immigranten kaum Chancen lassen; die Mittelschicht hat Angst vor dem Absturz ihrer Kinder; das politische System findet keinen Ausweg aus dem "Zentralismus", der sich immer mehr als Neo-Absolutismus entpuppt.

Und alle ideologischen Debatten stecken in antiken Grabenkämpfen fest: Republikanismus vs. Kommunitarismus, Revolution vs. Reform. Die beiden großen Parteien, UMP und PS, reiben sich in Personalkriegen auf, Chiraquisten vs. Sarkozysten, Royalisten vs. Fabiusiens. Das Potential der Neofaschisten liegt bei 20 Prozent.

Dabei wird das Land von Deutungskonflikten bezüglich seiner Vergangenheit erschüttert. Schwarze und Araber prangern die Kolonialpraktiken der Republik an, Juden erinnern an den Antisemitismus unter Vichy. Immer blasser werden die Mythen von der egalitären Republik, von Frankreichs Größe und seiner universalen Mission. Nicht zufällig hat sich eine neue Spezies von Intellektuellen herausgebildet, die sogenannten déclinologues", die Niedergangstheoretiker".

Das Programm: telegen sein

Wenn es in der Politik um tragfähige Projekte ginge, könnte man erwarten, dass die Präsidentschaftsanwärter sich mit Reformvorschlägen überschlagen würden. Dass sie Justizreformen ins Auge fassten, Ideen zur Bildungs- und Wirtschaftspolitik entwickelten, die ethnischen Konflikte des Landes zu überwinden trachteten. Darum geht es aber nicht. Weder Ségolène Royal noch Nicolas Sarkozy sind bereit, sich die Finger mit politischer Handwerksarbeit schmutzig zu machen. Sie konzentrieren sich darauf, die Wahlen zu gewinnen, also möglichst telegen auszusehen und das zu sagen, was die Leute gerade zum Ankreuzen an der richtigen Stelle motiviert.

Zwei Drittel der Franzosen schenken den politischen Parteien kein Vertrauen mehr. Man hält sie für korrupt und/oder inkompetent. Also kommuniziert man Nähe zum guten Volk und Distanz zur Partei. Der Soziologe Michel Wieviorka hat die Situation treffend beschrieben:

"Alles läuft auf Populismus hinaus. Der Populismus versöhnt unvereinbare Gegensätze im Imaginären. Er verkündet, dass wir ganz wir selbst bleiben können, während wir uns grundlegend ändern. Oder er verkündet, wie Royal, auf der Seite des Volkes und seiner Nöte zu stehen und nicht auf Seiten des Parteiapparats, während man sich auf denselben Apparat stützt. Das Ausspielen des Volkes gegen die Institutionen führt letztlich zum Ruf nach dem charismatischen Führer, es schließt jede intermediäre Ebene aus."

Neu ist der Populismus in Frankreich nicht. Chirac hat seine Wahlen mit einer Mischung aus "rechten" und "linken" Versprechungen gewonnen, Mitterrand war ein Meister der Zweideutigkeiten. Die drei aussichtsreichsten Kandidaten für den ersten Wahlgang sind Royal, Sarkozy und Le Pen, drei Charismatiker im Imaginären. Wenn Probleme aber nur imaginär gelöst werden, dann explodieren sie irgendwann in der Wirklichkeit. Die jüngste Zeit hat das eindringlich gezeigt.

© SZ vom 29. November 2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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