Frankreich und die EU-Verfassung:Referendum als Revolte

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Die Lage zwingt einen alten, längst zum Kalauer verkommenen Satz in Erinnerung: Es geht, wieder einmal, ein Gespenst um in Europa.

Ein Kommentar von Christian Wernicke

Nur ist es dieser Tage keine revolutionäre Heilslehre, die - wie es einst im Kommunistischen Manifest hieß - "alle Mächte des alten Europas" bedräut, sie "zu einer heiligen Hetzjagd verbündet" gegen den subversiven Spuk ihrer Untertanen.

Stimmabgabe im westfranzösischen Chasneuil du Poitou (Foto: Foto: AP)

Nein, anno 2005 ist es die Demokratie, die sehr schlicht und sehr direkt den Premiers und Präsidenten den Angstschweiß auf die Stirne treibt. Denn hilflos müssen sie zusehen, wie so manches ihrer Völker zu zerreißen droht, was sie mit viel Mühe auf sehr viel Papier als Plan für eine gemeinsame, immer engere Zukunft ihrer Nationen entworfen hatten: die EU-Verfassung.

Sollte Europas Grundgesetz nun an den widerspenstigen Franzosen oder Holländern scheitern - es wäre historisch eine Farce. Denn so viel Demokratie war nie in all den bisherigen Vertragswerken, nach denen die Regierungen das erste halbe Jahrhundert kontinentaler Integration unter sich ausmachten.

Diese bürgerferne "Europäisierung von oben" hat, wenigstens bis Maastricht, kaum jemanden gestört. Seit Anfang der neunziger Jahre jedoch, da "Brüssel" den Euro erdachte und mit immer neuen Richtlinien den Weg zum EU-Binnenmarkt planierte, schwand dieser Konsens duldsamer Zustimmung. Galliger Unwille staute sich auf.

Zumal, da Europa gleich seine nächste Zumutung bereit hielt: Die EU-Osterweiterung - mehr exekutiert als politisch vermittelt - schürte unter den Westeuropäern das Gefühl, einem anonymen Leviathan ausgeliefert zu sein: Eine obskure Allmacht, die sich grenzenlos ausbreitet. Dagegen, nicht gegen die knapp 500 Seiten dicke Konstitution richtet sich der Zorn der Nein-Sager.

Und viele Franzosen und Niederländer meinen noch mehr die Esel in der eigenen Regierung, wenn sie per Non und Nee den europäischen Sack schlagen. Egal, jetzt wird eben abgerechnet!

So wird das Referendum zur Revolte. Der Einbruch direkter Demokratie sprengt den diplomatisch-technokratischen Komplex zu Brüssel, legt plötzlich ein System namens Europa lahm, das scheinbar nur sich selbst genügt und nach außen unerklärlich bleibt.

Zwar postuliert die EU seit jeher den Anspruch, zu einem "Europa der Bürger" reifen zu wollen; in Wahrheit aber ist diese res publica europaea (sic!) bis heute ein halbdunkler Raum, in dem sich nur Eingeweihte oder vermeintlich Erleuchtete zurecht finden. Das rächt sich nun.

Die Verantwortung für diese elenden Zustände lastet auf vielen Schultern - auch bei jenen Printmedien und TVSendern, die das schrecklich unbunte Brüssel seit jeher ausblenden oder

nur mit rein nationalem Farbfilter ablichten. Ansonsten sind es drei Gründe - menschliche, politische, systematische -, die den Citoyen von Europa dauerhaft entfremden.

Die menschlichen Gründe trifft man tausendfach im Brüsseler EU-Viertel: Ob sie es wollen oder nicht - die Heerschar von Bürokraten und Diplomaten bildet eine Elite, die mit Fleiß und Raffinesse die europäischen Sachzwänge verwaltet und dabei einen EU-Jargon pflegt, den kein normaler Mensch mehr begreift. In keiner Sprache. Traditionell deutete diese diplo-kratische Kaste jedwede Einmischung von unten als Gefahr für ihr Einigungswerk. Dieser Dünkel der Gründer-Kader schwindet. Aber soziologisch lebt "Brüssel", mehr als Berlin, Paris oder Den Haag, unter einer Käseglocke.

Die zweite, im Kern politische Ursache für die EU-Malaise lässt sich als chronische Schizophrenie ihrer nationalen Führer diagnostizieren: Nach jedem Gipfeltreffen verkündet ein Gerhard Schröder, Jacques Chirac oder Wolfgang Schüssel, welchen Erfolg er mal mit, mal gegen die Partner errungen habe.

Wenn's dann aber dran geht, die eigenen EU-Beschlüsse daheim umzusetzen, mutiert der Mittäter zum Opfer: Plötzlich ist, was "die da" in Europa beschlossen hätten, gänzlich unbekannt oder unverschämt. Noch kein Kanzler hat es so geschickt wie Schröder verstanden, sich in Berlin als Musketier gegen Brüssels angebliche Fremdherrschaft in Szene zu setzen. Nur, den Preis in diesem SchwarzerPeter-Spiel zahlt Europa.

Denn die Menschen schauen ja zu. Sie rätseln, wie sich etwas ändern ließe in Brüssel - und warum sie niemand fragt. Das ist der dritte, der systematische Grund für den Euro-Frust: Die bisherige Ordnung gibt den 450 Millionen EU-Bürgern kaum Hebel in die Hand, die Brüsseler Verhältnisse zu beeinflussen. Gut, der eigene EU-Abgeordnete darf inzwischen bei zwei von drei Gesetzen mitentscheiden. Aber den Brüsseler Chef, den Kommissionspräsidenten, küren allein die 25 Regierungen - ohne Rücksicht auf das Ergebnis der Europawahl. Solche Ohnmacht lechzt nach Vergeltung.

Nun trifft die EU der Schlag, der Rückschlag. Zu Bruch geht dabei ausgerechnet eine Neuordnung, die der EU einige Wege aus ihrer inneren Einsamkeit hätte weisen können. Ob beim nächsten Anlauf für eine bessere Verfassung oder vor der übernächsten Erweiterung: Die EU muss lernen, will sie überleben, endlich mit dem fremden Geist direkter Demokratie zu leben.

© SZ vom 30.05.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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