Wobei Steinmeiers Umgang mit der rot-grünen Vergangenheit stets von seinen schwächsten Auftritten begleitet wurde. Bereits Ende 2005, Anfang 2006, als all die Fragen nach und nach erstmals hochkochten, redete er nur mäßig überzeugend: Alles nur der Versuch, die rot-grüne Außenpolitik in den Dreck zu ziehen. Einen Untersuchungsausschuss, schärfstes Instrument des Parlaments, lehnte der Minister mit ungelenken Argumenten ab und musste sich letztlich fügen.
Schauspiel ohne Zuschauer
Seither hat Steinmeier stets damit gerechnet, dass der Fall Kurnaz besonders heikel für ihn würde. Schwieriger als der Fall des nach Afghanistan von den Amerikanern entführten Khaled el-Masri, schwieriger als die Fragen nach den zwei BND-Agenten in Bagdad zur Zeit des Irak-Kriegs.
Und er konnte sich denken, dass er im Mittelpunkt stehen würde, der letzte Aktive neben den Ruheständlern Schröder, Schily, Fischer. Wie ein Torwart beim Elfmeter hat Steinmeier die Ecke geahnt. Es reichte nicht.
Steinmeier hatte unterschätzt, welche Wucht die Aussage von Murat Kurnaz vor dem Untersuchungsausschuss und die Veröffentlichung von Details aus den Akten entwickeln würden. Was in den Tagen seither in ihm vorgeht, ist nicht zu erkennen.
Wenn Steinmeier unter Druck steht, ist das ein Schauspiel ohne Zuschauer. Leuten, die mit ihm jüngst über Außenpolitik gesprochen haben, ist nur aufgefallen, dass ihnen nichts aufgefallen ist. Er war sachlich, aufmerksam, freundlich, gut vorbereitet, konzentriert. Steinmeier wie immer.
Wenn er sich zur Selbstkontrolle zurückgezogen hat, muss es in ein sehr stilles Kämmerlein gewesen sein. Wenn er an diese Geschichte so herangegangen ist, wie er Politik macht, hat er den Fall in seine Einzelteile zerlegt wie eine Uhr und dann wieder zusammengebaut, Rädchen für Rädchen, Schräubchen für Schräubchen.
Die Frage ist nur: Wonach genau hat er gesucht? Selbst Menschen, die Steinmeier überaus gewogen sind, können sich vorstellen, dass er zunächst nach einer rationalen Erklärung forschte: Was ist hier schief gegangen? Das würde auch dazu passen, dass Steinmeier erst so verdammt spät endlich sein Bedauern über Kurnaz' Schicksal äußerte.
Das blieb nicht die einzige Merkwürdigkeit in seinem Defensivverhalten. Erst ließ er verkünden, er werde nur im Ausschuss reden. Dann plötzlich äußerte er sich in Brüssel, am Rande des EU-Außenministerrates. Steinmeier hätte es besser wissen müssen: Der Auftritt erinnerte ein wenig an jene legendäre Pressekonferenz seines Vorgängers in der Visa-Affäre, als Joschka Fischer auf dem Trottoir im Schneetreiben den hungrigen Journalisten ein paar Brocken hinwarf - und hinterher alles noch schlimmer wurde.
Ein Selbstzerfleischer
So ähnlich war es jetzt. In Erinnerung bleibt nicht Steinmeiers Wort von Kurnaz' ,,erschütterndem'' Leiden, sondern sein Urteil über die Vorwürfe gegen ihn: infam.
Er hat das Wort nicht mehr benutzt. Es kann gut sein, dass er sich selbst am meisten darüber ärgert. ,,Er ist ein Selbstzerfleischer'', sagt ein ehemaliger rot-grüner Koalitionär. Und nichts hasst Steinmeier mehr, als dass man ihn für einen gefühllosen Sachbearbeiter hält. Wer ihn kenne, wisse, dass ihn Kurnaz' Schicksal nicht kalt lasse, wurde Steinmeier vernommen.
Wer ihn kenne, wisse, dass er ein integrer Mann sei, sagen seine Parteifreunde Kurt Beck, Franz Müntefering und andere. Aber wer ihn nur ein bisschen kennt, weiß auch, dass er mit Emotionen sparsam ist.
Der einstige Manager der Macht ist beim Management der eigenen Krise ins Schleudern geraten. Vielleicht fehlt Steinmeier einer, wie er es selbst früher für Gerhard Schröder war.
Sechs Jahre lang fuhr Steinmeier als Chef des Kanzleramtes jeden Morgen gegen halb neun in sein Büro. Auf dem Schreibtisch warteten die Aktenordner, die er bis spät in die Nacht abarbeitete. Am nächsten Morgen lagen die nächsten Akten da. Alles komplizierte Fälle, sonst hätte man sie nicht bei ihm abgelegt. So schildern es Menschen, die bisweilen Zugang in das Büro hatten. ,,Auf diesem Tisch'', so sagt es einer von ihnen, ,,landete jeden Tag ein Haufen Scheiße.''
Dieser Job hat etwas Zurückgezogenes, ja fast Autistisches. Der Chef des Kanzleramtes, unabhängig von der Person, steht in der Gefahr, eine Art Realitätsverlust zu erleiden, sagt einer, der nahe genug war, um das zu beurteilen.
Ein Kanzleramtsminister kennt viel Deutschland aus Akten, aus Besprechungen und sonst vor allem aus dem Blick durch sein Bürofenster. Man muss schon einen ungewöhnlichen Charakter haben, um über diesen Posten zu sagen: ,,Es ist im Grenzbereich zwischen Politik und Verwaltung der schönste und anspruchvollste Job, den die Republik zu vergeben hat.'' Es ist ein Satz von Steinmeier.
Im Zweifel für die Vorsicht
Der Kanzleramtschef, obgleich nur im Range eines Staatsministers, war durchaus ein mächtiger Mann. 500 Untergebene und über sich nur einen Chef, der ihm vertraute. An seinem Verhältnis zu Schröder, hat Steinmeier mal gesagt, schätze er den ,,relativen Freiraum bei hoher Rückendeckung'', den der Kanzler gewähre.
Heute übrigens würde er das so wohl nicht mehr sagen, nachdem Schröder im Fall Kurnaz das mit der Rückendeckung aufgegeben und alle Verantwortung zu seinem Amtschef geschoben hat.
Viele, die ihn damals erlebt haben, rühmen Steinmeiers Präzision, seine Umsicht und seine klare Analyse. Rot-Grün war eine chaotische Regierung, wahrscheinlich aber nicht wegen, sondern trotz Steinmeier. Aus dieser Zeit stammen die Titel Mechaniker der Macht oder Der Unersetzliche.
Der gut organisierte, systematische Steinmeier galt als das Gegenstück zum sprunghaften Kanzler mit Hang zur medialen Inszenierung. Als fairer Vermittler in unzähligen Konflikten. Und immer war ihm seine akribische Art, seine Detailkenntnis von Nutzen. Aber kann es nicht auch sein, dass in so einem Job alles nur noch Papier ist? Ein Ordner Steuerreform, ein Ordner Emissionshandel, ein Ordner Kurnaz?