Föderalismusreform:Die relative Gerechtigkeit

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Der Strafvollzug wird Ländersache - faktisch ist er es längst. Ob einem Häftling in Deutschland Lockerungen zugestanden werden, hängt von ihm selbst, noch mehr aber vom Bundesland ab.

Christoph Hickmann

Herr T. trägt an diesem Nachmittag über einer blauen Jogginghose seine Vergangenheit am Körper. Er sitzt vor einer heruntergelassenen Jalousie, er hat sich ein T-Shirt mit den Buchstaben "JVA DA" angezogen, was für Justizvollzugsanstalt Darmstadt steht, und er hat schon viel geredet an diesem Nachmittag.

Der Strafvollzug wird Ländersache - das Foto zeigt eine Strafvollzugsanstalt in Brandenburg (Foto: Foto: ddp)

Es ist nicht einfach gewesen, ihm dabei zuzuhören, weil sich seine Sätze immer wieder im Nichts verloren haben, seine Stimme ist leiser geworden, die Augen sind zugefallen, bis nur noch eine Art Brummen zu hören war und am Ende gar nichts mehr.

Alle paar Minuten ist das so gegangen. Herr T. ist dann hochgeschreckt, es müsse an den Beruhigungsmitteln liegen, hat er gesagt. Zwei Tage später wird ein Arzt feststellen, dass Herr T. schon am Tag vor dem Gespräch einen Herzinfarkt erlitten hat, drei Monate, nachdem er endlich freigekommen ist. Die 18 Jahre davor hatte er im Gefängnis verbracht.

Herr T., geboren im Jahr 1948, aufgewachsen innerhalb von etwas, das er "kleinbürgerliches Milieu" nennt, hat seit seiner Geburt ein verkümmertes Bein, er trug schon als Kind eine Prothese. Er ging zur Schule, danach wurde er Kaufmann, und nun ging es ihm darum, möglichst schnell zu möglichst viel Geld zu kommen und damit Dinge zu kaufen, die möglichst viele sehen konnten. Schnelle Autos, zum Beispiel.

Zum ersten Mal verurteilt wegen Betrugs wurde er 1973, eineinhalb Jahre später dann noch einmal, es blieb bei Geldstrafen. Fünf Jahre danach gab es die erste Freiheitsstrafe, zehn Monate auf Bewährung, im Oktober 1983 folgten wegen Betrugs in zwei Fällen zwei Jahre und neun Monate Haft. Herr T. sagt dazu an diesem Nachmittag nicht viel, vor allem nicht zu seinen Fehlern. Er spricht vor allem von Fehlern anderer. Er spricht wie so viele Menschen, die betrogen haben.

Alles abgesessen

Nach der ersten Haft ging es weiter, Herr T. verstieß gegen das Berufsverbot, das die Richter verhängt hatten. Zusammen mit einem Partner kaufte er Immobilien, ohne verbindliche Kreditzusagen zu haben. Er blieb den Verkäufern die Provision schuldig, es ging um viel Geld, und am Ende verurteilte ihn das Landgericht Kassel zu siebeneinhalb Jahren Haft und zehn Jahren Sicherungsverwahrung. Die Richter meinten, die Gesellschaft müsse vor dem Betrüger T. geschützt werden, und er hat alles abgesessen, in Kassel und in Darmstadt, bis zum letzten Tag. Herr T. ist nie in den offenen Vollzug gekommen, er hat keinen Hafturlaub und keinen unbegleiteten Ausgang bekommen. Er ist vor drei Monaten in diese Gesellschaft zurückgekehrt, ohne darauf auch nur ein bisschen vorbereitet zu sein.

Nun könnte man es sich einfach machen und diese Geschichte einen Einzelfall nennen, doch so einfach ist die Sache nicht. Man sollte sie besser ein Symptom nennen, einen Auswuchs jener Entwicklung, die am Freitag im Bundestag zu ihrem vorläufigen Ende gekommen ist. Der Bundestag hat nun die Reform des deutschen Föderalismus beschlossen und damit auch des Strafvollzugs: Stimmt am kommenden Freitag auch der Bundesrat zu, kann das Strafvollzugsgesetz fortan durch Landesrecht ersetzt werden oder, so sagt es Johannes Feest, Rechtsprofessor an der Universität Bremen: "Man muss befürchten, dass es künftig nach dem gleichen Strafgesetzbuch höchst unterschiedliche Bestrafungen geben wird, sowohl, was die Länge als auch, was die Qualität betrifft."

Kritik der Richter und Rechtsanwälte

Die Berufsverbände der Richter und der Rechtsanwälte haben sich gegen die Reform ausgesprochen, außerdem der Verband der Anstaltsleiter und viele Wissenschaftler. Wolfgang Lesting, Richter am Oberlandesgericht Oldenburg, sagt: "Die Länder werden sich anschauen, was die jeweils anderen machen. Und dann wird es sehr schnell heißen: ,Die da drüben sparen, also müssen wir auch sparen.' Auf der Strecke bleiben wird vor allem die Resozialisierung."

Nun ist es aber eben nicht so, dass am Freitag etwas vollkommen Neues begonnen hätte. Der Rechtsprofessor Feest sagt dazu: "Die Föderalismusreform legalisiert für den Strafvollzug eine Entwicklung, die schon seit Jahren im Gange ist." Um sie zu verstehen, muss man sich das Strafvollzugsgesetz ansehen. Es stammt aus dem Jahr 1976, und der Kern dieses Gesetzes ist der Gedanke der Resozialisierung: Straftäter sollen in der Haft zurück in die Gesellschaft geführt werden.

Mit diesem Gedanken haben einige Länder bereits gebrochen, und dabei geht es nicht nur um Kosten, sondern auch um etwas, das man als ideologische Wende im Strafvollzug verstehen kann. Rechtlich möglich war sie, weil sich im Strafvollzugsgesetz Lücken finden lassen, in die einige Länder vorgestoßen sind, vor allem seit der Mitte der neunziger Jahre. Das Ergebnis ist bereits heute ein Rechtsgefälle zwischen den Ländern.

So steht etwa im Bundesgesetz nicht, dass Gefangene für Ausgänge einen bestimmten Zweck angeben müssen, doch in Bayern, Baden-Württemberg und Hessen sind nun bestimmte Lockerungszwecke vorgegeben. Lockerungen sind ein Kernelement der Resozialisierung, durch Ausgänge etwa soll sich der Gefangene wieder an ein Leben in Freiheit gewöhnen.

In beinahe allen Ländern aber gibt es seit einigen Jahren weniger Lockerungen, besonders gut kann man das an den Zahlen zum Hafturlaub ablesen: In Hessen wurden die Urlaube seit 1998 um mehr als 53 Prozent reduziert, in Bremen seit 1999 um 56 Prozent. Beim offenen Vollzug sieht es ähnlich aus: Saßen in Hessen 1996 noch 27,3 Prozent der Gefangenen dort, waren es 2003 dann 12 Prozent. Und Gefangene in Berlin und Nordrhein-Westfalen hatten 2003 etwa zehnmal höhere Chancen auf Ausgang als Gefangene in Bayern und Sachsen-Anhalt.

Hessen als Vorreiter

Hessen liegt mit an der Spitze dieser Entwicklung, und in Hessen hat man Herrn T. keine Lockerungen gewährt, abgesehen von begleiteten Ausgängen. Er hat weiter Anträge gestellt, unter anderem darauf, in den offenen Vollzug verlegt zu werden, und 1998 wäre es fast so weit gewesen. Dann fand man bei ihm eine Visitenkarte mit seinem Namen, dazu einen Brief an eine Immobilienfirma.

Die Karte hatte er in der Haft gedruckt, während seiner Ausbildung zum Mediengestalter, ohne bestimmten Zweck, so sagt er das noch heute. Zu dem Brief erklärte er damals, die Firma habe ein Haus seiner Eltern verwalten sollen. Carl Friedrich Bringer, ehemaliger Redakteur des Hessischen Rundfunks und ehrenamtlicher Betreuer von Herrn T., sagt dazu: "Das ist furchtbar hochgespielt worden. Die Anstaltsleitung kam nicht mit ihm klar, denen war er zu intelligent."

Herrn T. aber sollte die Sache nachhängen. Im Jahr 1999 beschäftigte sich ein Gutachter mit der Frage, ob man ihn vorzeitig entlassen könne: "Selbst Urlaube ohne ständige Begleitung würden für Herrn T. einen nicht mehr kontrollierbaren Freiraum schaffen, dem er derzeit noch nicht gewachsen ist." Im nächsten Gutachten vom März 2003 ist zu lesen: "Die bei Herrn T. durch dessen Tat zutage getretene Gefährlichkeit besteht weiter fort."

Was in den Gutachten nicht zu lesen ist: Herr T. hat sich gut benommen in der Haft. Er hat sich noch einmal ausbilden lassen, er war Redakteur einer Gefangenenzeitschrift, Gefangenenvertreter in Kassel wie in Darmstadt und wurde dem damaligen hessischen Justizminister, dem Grünen Rupert von Plottnitz, bei einem Besuch in Darmstadt offiziell vorgestellt. "Als Vorzeigegefangener", sagt Plottnitz heute. Die Verbindung hielt; seit 1999 nicht mehr Minister, übernahm er Anfang 2004 Herrn T. als Mandanten. "Der Fall ist grotesk", sagt er. "Der Mann ist schwerbehindert und hat sich mustergültig verhalten."

Man könnte das abtun, als Meinung eines Bürgerrechtlers, der jetzt außerdem Herrn T. vertritt. Man könnte sich aber auch anschauen, was der Mann, der Plottnitz als Justizminister gefolgt ist, 2002 in der Zeitschrift für Rechtspolitik geschrieben hat: Einen "auf Grund von Lockerungen nur noch eingeschränkten Freiheitsverlust des Verurteilten", analysiert dort der CDU-Politiker Christean Wagner, empfinde die Rechtsgemeinschaft oft "nicht mehr als Genugtuung".

Der damalige hessische Justizminister Christean Wagner hat im November 2005 das erste teilprivatisierte Gefängnis übergeben. (Foto: Foto: dpa)

Exakter kann man den Geist der Zeit wohl kaum fassen, bei dem es eben auch um Symbolik geht: Straftätern soll es nicht zu gut gehen, weil das denen nicht gefallen könnte, die nichts verbrochen haben.

Die wiederum sollen sich möglichst sicher fühlen, und daraus ist ein Klima entstanden, in dem Gedanken wie dieser untergehen: Dass ein Straftäter, der nicht an die Freiheit herangeführt wird, am Ende gefährlicher aus dem Gefängnis herauskommen kann, als er hineingegangen ist. Es geht hier auch um Angst, davor, dass doch einmal etwas passieren könnte, und darum, dass eine Gesellschaft nicht mehr bereit ist, dieses Risiko zu tragen.

Es geht eigentlich um ganz andere Fälle als den des Herrn T., um Gewalt- und Sexualverbrechen, und gerade weil Herr T. die nicht begangen hat, ist sein Fall ein gutes Beispiel dafür, wie es steht um den Vollzug in diesem Land: Selbst ihm hat man so ziemlich alles verwehrt, was zu verwehren war.

"Gefährlichkeit besteht fort"

Nach dem Gutachten vom März 2003 dauert es noch einmal zweieinhalb Jahre, bis ein neuer Sachverständiger Herrn T. beurteilt. Die Gesprächstherapie in der Haft habe sich positiv ausgewirkt, stellt er fest, und "dass bei dem Verurteilten nach dem derzeitigen Kenntnisstand keine Gefahr mehr besteht, dass dessen durch die Tat zu Tage getretene Gefährlichkeit fortbesteht". Lockerungen seien "sogar geboten". Plottnitz beantragt unbegleiteten Ausgang.

Zwei Monate später schreibt ihm die JVA, das Gutachten habe die Strafvollstreckungskammer nicht überzeugt. Unter dem Punkt "Eignung für Vollzugslockerungen" ist angekreuzt: Nein. Heute will man sich dazu in der JVA nicht mehr äußern und verweist auf das Ministerium. Dort heißt es, ohne schriftliches Einverständnis von Herrn T. könne man nichts sagen. Doch der liegt im Krankenhaus. Ansonsten, sagt die Sprecherin, sei alles "ordnungsgemäß gelaufen". Anwalt Plottnitz sagt: "Das war willkürliches Hintertreiben der Resozialisierung." Und: "Das ist in Hessen nicht mehr untypisch."

Noch im Jahr 2006, nach acht Jahren, in denen Herr T. keinerlei Verfehlungen mehr begangen hat, darf er die Anstalt nicht ohne Begleitung verlassen. Bis zum 23. März, dem Tag der Entlassung. Herr T., der jetzt 58 Jahre alt ist und eine Beinprothese trägt, findet eine Wohnung, "in letzter Minute", sagt er. Er muss sich Möbel besorgen, Geschirr, all diese Dinge. Er muss frei sein, obwohl er gar nicht mehr weiß, wie das geht. Herr T. sagt: "Hier reinzukommen, in diese Freiheit, das war ganz schlimm."

© SZ vom 1.7.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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