Fluglotsen-Mord in Zürich:Chronik einer angekündigten Bluttat

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Er kam nicht über das Leid hinweg, und die Schweizer Justiz konnte ihn nicht versöhnen - Spurensuche in der Heimat des mutmaßlichen Täters.

Von Tomas Avenarius

Wladikawkas, 29. Februar - Genau so, wie Konstantin Kalojew hinter seinem Schreibtisch sitzt, thront er wahrscheinlich auch über dem Familienrat seiner Sippe. Der Chefarzt aus Wladikawkas strahlt jene nicht einklagbare Autorität aus, die erst mit hohem Alter kommt, Widerspruch nicht duldet und voraussetzt, dass einer die ehernen Regeln kennt, die für ihn und die seinen wie für die anderen gelten. "Es gibt keine Beweise", sagt der 67-jährige Arzt und Familienälteste der kaukasischen Sippe. "Keiner weiß, ob mein Neffe am Tatort war."

Die Beweise sind das eine, die Indizien das andere. Es besteht kaum Zweifel daran, dass der russische Bauingenieur Witalij Kalojew die 14 Zentimeter lange Klinge geführt hat, die in der vom Kaukasus so weit entfernten Schweiz den dreifachen Familienvater Peter Nielsen tödlich in Hals und Herz traf. Die Polizei hält die Identität des russischen Staatsbürgers zwar geheim, den sie im Zürich-Klotener Hotel "Welcome Inn" festgenommen hat. Aber alles spricht dafür, dass es jener Mann ist, von dem der kaukasische Sippenälteste sagt: "Wir Kalojews sind eine ehrenwerte Familie. Und mein Neffe ist der Vorbildlichste von uns allen."

Witalij Kalojew ist 48 Jahre alt. Im Juli 2002 hat er Frau, Sohn und Tochter bei einem Flugzeugabsturz an der deutsch-schweizerischen Grenze verloren. Es war eine Jahrhunderttragödie, ausgelöst offenbar von einem nachlässigen Fluglotsen: 71 Menschen starben, überwiegend russische Schulkinder, die auf dem Weg in den Spanien-Urlaub waren. Kalojew ist nicht über den Verlust hinweggekommen - und der Mann, der jetzt erstochen wurde, ist der Fluglotse.

Verfolgt von leeren Blicken

Im Rückblick lesen sich die letzten eineinhalb Jahre im Leben Kalojews nach den Erzählungen der Verwandten wie die Chronik einer angekündigten Bluttat: Nach dem Absturz machte der Verzweifelte sein Haus in Wladikawkas in der russischen Kaukasusrepublik Ossetien zum Mausoleum. Morgens, wenn er aufwachte, schaute er auf die Photos der Toten: Großformatig aufgereiht wie die heilige Dreifaltigkeit stehen sie noch heute am Fußende seines Bettes. Auch tagsüber verfolgten ihn die leeren Blicke - von den Porträts im Wohnzimmer, wo regelrechte Altäre an Mutter, Tochter und Sohn erinnern.

Auf diesen Altären hat Kalojew die persönlichen Sachen der Toten gehäuft: den Schmuck und die Parfüms seiner Frau, die Spielsachen der Kinder. Abends, bevor er einschlief in seinem Bett, konnte er die Photos noch einmal ansehen. Und wenn er mitten in der Nacht hochschreckte und das Licht anknipste, schaute er wieder in ihre Gesichter. Meist stand er dann auf, fuhr im Dunklen auf den Friedhof - und betrachtete dort ihre Porträts. Sie sind mit photographischer Schärfe in den schwarzen Marmor graviert: auf der Vorder- wie auch auf der Rückseite des Grabmals, vor dem immer rote Nelken liegen.

Bart als Symbol der Trauer

Der nächtliche Zusammenstoß einer russischen Passagiermaschine mit einem DHL-Frachtflugzeug über dem Bodensee hat Kalojews Leben zerstört. Er war im bettelarmen Ossetien bis dahin sehr erfolgreich gewesen als Bauingenieur und Architekt, aber von dem Unfall an arbeitete er keinen Tag mehr. Er spann sich ein in einen Kokon der Erinnerung. Und die Verwandten sagen: "Seine einzige Aufgabe war der tägliche Gang zum Friedhof."

Und dann kam die Enttäuschung, Schlag auf Schlag. Deutsche und Schweizer Behörden sowie die verantwortliche Flugsicherungsgesellschaft "Skyguide" verschleppten die Ermittlungen. Das Gerichtsverfahren - und damit in seinen Augen die Gerechtigkeit - ließ auf sich warten. Eineinhalb Jahre verstrichen. Kalojew fürchtete, dass niemals ein Schuldiger zur Verantwortung gezogen werden würde.

Er rasierte sich nicht mehr, sein Bart wurde länger und länger- Symbol der Trauer im Kaukasus und der nicht vollzogenen Rache. Um sich herum hatte er nur seine Verwandten. Und die sagen: "Bei uns braucht keiner Hilfe vom Psychologen. Bei uns kommt Hilfe von der Familie und von Freunden." Sie bestärkten Witalij Kalojew in dem Gefühl, dass ihm Unrecht geschehen sei. Ihnen zufolge soll Kalojew auch gesagt haben: "Mit Halunken wie diesem Lotsen rechnen wir Kaukasier auf eigene Art ab."

"Mit Halunken rechnen wir Kaukasier auf eigene Art ab"

Am Ende handelte Kalojew so, wie man es ihm von klein auf beigebracht hatte: "Wenn der Staat nicht hilft, muss ein Mann sein Geschick selbst in die Hand nehmen." Vermutlich war in den letzten Tagen folgendes passiert: Kalojew reiste aus Russland in die Schweiz, fragte sich in Zürich-Kloten durch zu Nielsens Haus und stach den Mann nieder, der verantwortlich zu sein scheint für den Zusammenstoß der beiden Flugzeuge.

Nielsen verblutete vor den Augen seiner Frau und seiner drei Kinder. War das, was sich auf der Terrasse eines biederen Schweizer Einfamilienhauses ereignete, die kaukasische Blutrache? Vollzog sich damit das Gesetz der kaukasischen Berge in der behäbigen Stille des Züricher Vorortes Kloten? Alttestamentarische Rache statt langwieriger Rechtsstreitigkeiten, statt des Schacherns von Anwälten um millionenschwere Entschädigungen, statt dürr-abstrakter Worte von Richtern?

Es lässt sich nur schwer erahnen, was Kalojew in den einsamen Stunden auf dem Friedhof von Wladikawkas gedacht hat über das sich hinziehende Gezerre zwischen der Schweizer Justiz, der deutschen und der schweizerischen Flugsicherung, den Experten und Rechtsanwälten: Er brachte das alles vermutlich nicht zusammen mit der Moral, mit der er groß geworden war. Kalojew stammt aus Ossetien. Im Gegensatz zu anderen Kaukasiern wie den muslimischen Tschetschenen, Inguschen und Tscherkessen kamen die orthodox-christlichen Osseten zwar politisch zurecht mit den Zaren und den Sowjetherrschern.

Ehre, Familie, Mannhaftigkeit

Aber die ossetische Moral ist bis heute kaukasisch-streng geblieben, sie kreist archaisch um Ehre, Familie, Mannhaftigkeit. Dass die Justiz Recht spricht, ohne dass die Familie der Opfer Gerechtigkeit findet, passt nicht ins Denken eines Osseten.

Kalojew war, kaum dass er von dem Absturz erfahren hatte, an den Bodensee gereist. An der Unfallstelle ließ er sich von niemandem aufhalten. "Als die Retter verstanden, dass meine Familie in dem Flugzeug war, ließen sie mich durch die Absperrung", sagte er später.

Zehn Tage irrte er über die 30 Quadratkilometer große Unfallstelle, zog zerschmetterte Körper und abgerissene Glieder zwischen verbogenem Metall und aufgeplatztem Gepäck heraus. Insgesamt lagen die Leichen von 71 Kindern und Erwachsenen verstreut in einem Getreidefeld, an Straßen, auf den Dächern von Häusern. Seinen zehnjährigen Sohn Konstantin fand Kalojew mit zertrümmertem Schädel, seine Frau Swetlana konnte er kaum noch identifizieren. Und er sah seine Tochter Diana. Die Vierjährige hing im Wipfel eines Apfelbaums, äußerlich unversehrt. "Meine Tochter flog vom Himmel wie ein Engel", sagte Kalojew später.

"Meine Tochter flog vom Himmel wie ein Engel"

Dann wurde er, zusammen mit den inzwischen aus Russland angereisten Angehörigen der anderen Opfer, mit dem Versagen der Schweizer Flugsicherung konfrontiert. Und er hörte vor allem von der Firma Skyguide Ausreden und Ausflüchte. Die Hinweise auf Computer und Telefone im Tower, die in dieser Nacht wegen Wartungsarbeiten stillgelegt gewesen sein sollen, akzeptierte er nicht. Er wollte immer nur eines wissen: "Wer ist Schuld? War es der Fluglotse?"

Kalojew weiß, dass das "Boeing"- Frachtflugzeug und die russische "Tupolew" minutenlang aufeinander zugeflogen waren und dass der Lotse Nielsen zunächst nicht reagiert hatte. Er war alleine im Kontrollraum, entgegen allen Vorschriften: Sein Kollege holte Kaffee. Als der Lotse endlich handelte - es blieben 45 Sekunden bis zur Katastrophe -, tat er das Falsche.

Seine Kommandos an die Piloten waren missverständlich, widersprachen den Anweisungen des elektronischen Warnsystems der Jets, das in beiden Maschinen längst angesprungen war. Der Bordcomputer wies die russischen Piloten an, sofort zu steigen, Nielsen aber forderte sie zum Sinkflug auf. Am Ende verzeichnete die Black-Box verzweifelte Flüche: Erst zwei Sekunden vor dem Zusammenprall sahen die Piloten gegenseitig ihre Maschinen. Dann zerschellten die Jets in einem Feuerball.

"Die Familie ist heilig"

Kalojews Verwandten fehlt auch heute noch jedes Verständnis für die Zähigkeit des Gerichtsverfahrens. "Warum wird das Verfahren verschleppt?", fragt der Schwager. "Wären 71 Amerikaner gestorben, hätte es einen Skandal gegeben. Sind wir Kaukasier Menschen zweiter Klasse?" Die Kalojews vermuten eine Verschwörung: "Warum wurde der Lotse nicht entlassen? Warum durfte der wichtigste Zeuge weiter bei Skyguide arbeiten? Was wird vertuscht?"

Um das herauszubekommen, hatte sich Kalojew schon im Juli 2003 auf den Weg in die Schweiz begeben. Da hatte er auch das erste Mal versucht, sein späteres mutmaßliches Opfer zu treffen. Doch damals hatte Skyguide-Chef Alain Rossier die Begegnung zu verhindern gewusst, indem er die Genehmigung zu einem Treffen versagte. Er habe, sagt er heute, schon damals an die Möglichkeit eines Attentats gedacht.

Elbrus Sattsajew beschäftigt sich als Wissenschaftler mit den kaukasischen Völkern. "Wenn der Fluglotse wenigstens zur Beerdigung gekommen wäre und auf Knien um Verzeihung gebeten hätte, dann wäre nichts passiert", sagt er. "Dann hätten Kalojew und seine Familie ihm vergeben." Ohne Entschuldigung aber gilt der Tod nicht als gesühnt für einen Osseten - unabhängig vom Ausgang eines Gerichtsverfahrens. Sattsajew sagt: "Die Familie ist heilig - ein Mann muss sie schützen. Wir können die Traditionen nicht aufgeben."

Der Fluglotse Nielsen hat sich nicht entschuldigt. 17 Monate später hat der Ossete Witalij Kalojew ihn vermutlich so gerichtet, wie er es für richtig hält. "Kalojew geht ins Gefängnis, ohne mit der Wimper zu zucken", sagt Sattsajew mit einem Achselzucken. "Verurteilt wird er von unserer Gesellschaft für seine Tat nicht. Er hat ja ehrenhaft gehandelt."

© SZ vom 1. März 2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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