Festakt:Zwischen Utopie und Unbehagen

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Zum 70-jährigen Bestehen des Zentralrats der Juden warnen dessen Präsident Schuster und Kanzlerin Merkel vor aktuellem Antisemitismus - und beschwören das Vertrauen der jüdischen Gemeinde zu Deutschland.

Von Nico Fried, Berlin

Gruppenbild mit Masken: Kanzlerin Angela Merkel und Zentralratspräsident Josef Schuster (Mi.) im Innenhof der Neuen Synagoge in Berlin. (Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa)

Die Gäste blicken auf eine Ruine, aber sie steht auch als Symbol für einen Wiederaufbau. Vor den Mauern, die in der Oranienburger Straße in Berlin von der einst größten Synagoge Deutschlands mit 3200 Plätzen übrig geblieben sind, feiert der Zentralrat der Juden sein 70-jähriges Bestehen. Es ist ein Festakt in schwierigen Zeiten: Die Corona-Krise begrenzt nicht nur die Zahl der Teilnehmer und gebietet große Abstände zwischen ihren Stühlen. Es ist auch ein Festakt in Zeiten, in denen sich in der jüdischen Gemeinde "ein Unbehagen" eingeschlichen hat, wie Josef Schuster es in seiner Rede nennen wird. Der Präsident des Zentralrats, der achte seit 1950, wird auch kritische Worte dazu sagen, was die Corona-Pandemie und dieses Unbehagen miteinander zu tun haben.

Schuster sieht eine "widerliche Instrumentalisierung" des gelben Sterns auf Corona-Demos

Die politische Prominenz ist zahlreich vertreten an diesem Tag. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble und einige seiner Stellvertreter sind gekommen, die Kanzlerin hält später den Festvortrag, viele Minister sind anwesend und auch bedeutende Ehemalige wie Ex-Bundespräsident Horst Köhler, Ex-Kanzler Gerhard Schröder und sein damaliger Außenminister Joschka Fischer. Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, Gideon Joffe, begrüßt auch Bischöfe und Muslime, den Gesandten Israels sowie Unterstützer aus der Gesellschaft wie die Verlegerin Friede Springer und die Schauspielerin Iris Berben.

Der Zentralrat ist heute die Dachorganisation für 105 jüdische Gemeinden mit rund 95 000 Mitgliedern. Josef Schuster würdigt in seiner Rede die "Pioniere", die im Juli 1950 in einer Privatwohnung in Frankfurt den Rat gegründet hatten. Eigentlich dachte man, vor allem die Interessen versprengter und gestrandeter Juden zu vertreten, die ins Ausland ziehen wollten. An jüdisches Leben in Deutschland zu glauben, so zitiert Schuster den früheren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, müsse fünf Jahre nach dem Ende des Holocaust "eine völlige Utopie" gewesen sein. Und doch etablierte sich dieses Leben wieder im Land der Täter.

Schuster erinnert daran, dass es auch nach 1945 Angriffe auf jüdische Einrichtungen gab, angefangen bei der Schändung der Kölner und anderer Synagogen 1950, bis zum Anschlag auf die Synagoge in Halle im Oktober des vergangenen Jahres. Paul Spiegel, einer der Vorgänger Schusters, habe mit Blick auf die Zeit vor der Schoah von einer einseitigen Liebe der Juden zu Deutschland gesprochen. Ob dies heute auch wieder gelte, fragt Schuster. "Nein", so seine Antwort, "die Zuneigung der jüdischen Gemeinde ist keine Einbahnstraße." Die Mehrheit der Deutschen stehe auch zur jüdischen Gemeinde - und auch "die etablierten Parteien", wie es Schuster formuliert, der auch in Interviews zur AfD gerne auf Distanz geht, indem er sie nicht einmal beim Namen nennt.

Und trotzdem gebe es seit einiger Zeit dieses Unbehagen unter Juden in Deutschland. Es führe dazu, dass manche die Kette mit dem Davidstern lieber unter dem Pullover trügen. Antisemitismus zeige sich aktuell unter anderem in den Verschwörungsmythen zur Corona-Pandemie. Zugleich stilisierten sich aber auch Demonstranten wegen der Auflagen als Anne Frank oder trügen den gelben Stern, den die Nazis den Juden im Dritten Reich angeheftet hatten. Er kenne Überlebende der Schoah, die diesen Stern tragen mussten, so Schuster, und er würde sich wünschen, dass sie "diese widerliche Instrumentalisierung nicht erleben müssten".

Schuster spricht schließlich von einem Vertrauensvorschuss, den die Juden diesem Deutschland heute wieder zu geben bereit seien. Es sei im Interesse aller, dass dieses Vertrauen nicht enttäuscht werde. Bundeskanzlerin Angela Merkel, deren Solidarität zu den Juden zuvor von Joffe wie von Schuster besonders gewürdigt wurde, greift das Wort vom Vertrauen auf und erinnerte daran, dass schon die Gründer des Zentralrats diesen Vorschuss gewährt hätten. Sie bewundere die Kraft, die von diesen Menschen aufgebracht worden sei. Heute sei die jüdische Gemeinde in Deutschland die drittgrößte Europas. Neue Synagogen, Kindergärten und Schulen seien entstanden. Die jüdische Gemeinde, so die Kanzlerin, könne stolz sein auf das, was sie "im Vertrauen auf sich selbst und auf Deutschland" aufgebaut habe. "Wir dürfen uns über ein blühendes jüdisches Leben freuen, aber es ist nur ein Teil", so Merkel.

Der andere Teil der Lebenswirklichkeit sei, dass sich Jüdinnen und Juden nicht sicher fühlen könnten. Das mache ihr Sorge, sei eine Schande und beschäme sie zutiefst. Antisemitismus und Rassismus habe es immer gegeben, aber er trete heute "enthemmter" auf. Manche Einträge in den sozialen Medien trieften "von Hass und Hetze". Bildung und Aufklärung seien nötig, aber wo dies nicht ausreiche, "sei der Rechtsstaat mit aller Konsequenz des Strafrechts gefordert". Dafür habe man auch nach dem Anschlag in Halle neue Gesetze zum Schutz jüdischen Lebens verabschiedet.

Sie wünsche sich, so Merkel, dass sich im nächsten Jahrzehnt eine Hoffnung Paul Spiegels erfülle: "Dass sich die nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft immer wieder dankbar bewusst macht, wie viel Glück den Deutschen in den vergangenen Jahren zu Teil wurde".

© SZ vom 16.09.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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