Fall Lügde:Das wahre Versagen

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Muss Innenminister Reul zurücktreten? Die Forderung greift viel zu kurz. Die Lehre aus dem Skandal ist: Der Staat muss neue Wege gehen, um Kinder wirklich vor sexueller Gewalt schützen zu können.

Von Matthias Drobinski

Was in Lügde geschah, verstört immer wieder neu - das Ausmaß der sexuellen Gewalt auf dem Campingplatz genauso wie die Schlamperei, Unfähigkeit und Vertuschung bei den zuständigen Behörden, die dazu beitrugen, dass die Gewalt immer weiterging und nun nicht so aufgearbeitet werden kann, wie es bitter nötig wäre. Da liegt es in der Logik des politischen Geschäfts, dass die SPD-Opposition im nordrhein-westfälischen Landtag den Rücktritt des CDU-Innenministers Herbert Reul verlangt: Reul hat vollständige Aufklärung versprochen, und dann finden wie zum Hohn die Abriss-Arbeiter im Schutt des Bretterverschlags, in dem der mutmaßliche Haupttäter lebte, belastendes Material, das die Polizei übersehen hat. Die Rücktrittsforderung ist aber vor allem ein Zeichen der Hilflosigkeit.

In Lügde geht es nicht ums Regierungsversagen, die Ursache des Desasters liegt tiefer. Das Wort vom Staatsversagen wurde in jüngster Zeit zu oft und zu schnell verwendet - hier aber wäre es angebracht. Es hat, weit über die Regierung hinaus, der Staat mit seinen Institutionen die Kinder alleingelassen, die ihren Vergewaltigern ausgeliefert waren.

Polizei und Jugendamt haben nicht mit all ihrer Kompetenz und Zugriffsmacht die Menschenwürde geschützt. Da war das Jugendamt, das die Hinweise auf die pädophile Struktur des Campingplatzbewohners ignorierte und ihm gar ein Kind zur Pflege anvertraute. Da war die Polizei, die nach einem sehr konkreten Hinweis nicht selber ermittelte, sondern die Sache einfach ans Jugendamt weiterleitete. Da sind die außerhalb aller professionellen Standards befragten Kinder, die auf rätselhafte Weise verschwundenen Beweismittel, die Aktenmanipulationen. Das ist nicht einfach die Ansammlung von Pannen, das ist ein Syndrom. Seit mindestens zehn Jahren erfährt das Thema Kindesmissbrauch höchste öffentliche Aufmerksamkeit, und immer noch und immer wieder gibt es dieses Ausmaß an Wahrnehmungsunfähigkeit, an Täterschutz, an Unempfindlichkeit gegenüber den Opfern. Und es gibt den Unwillen zur schonungslosen Aufarbeitung von Fehlern.

Zu Recht steht gerade die katholische Kirche am Pranger, weil sie nur unter großem Außendruck und mit vielen inneren Widerständen beginnt, sich den systemischen Ursachen der sexuellen Gewalt in ihrem Bereich zu stellen. Der gleiche Prozess ist aber auch vom Staat zu fordern, von den Jugendämtern, der Polizei, den Landesregierungen und der Bundesregierung; von Kindergärten, Schulen, allen Institutionen, wo das Hinsehen und Handeln geübt werden muss.

Das beginnt bei der Frage, ob die Jugendämter für diese Aufgabe ausreichend ausgestattet und vorbereitet sind und ob es richtig ist, dass jede Kommune selber entscheidet, wie sie die allgemeinen Vorschriften des Bundes umsetzt. Es geht weiter bei der Debatte, ob nicht neu justiert werden muss, wann das zu Recht in Deutschland hochgehaltene Elternrecht zu Gunsten des Kindeswohls zurückstehen muss. Und es endet bei neuen Gesetzen: In den USA haben Provider eine gesetzliche Meldepflicht, wenn sie auf ihren Servern Kinderpornografie entdecken, in Deutschland bislang noch nicht.

Es geht um einen Lernprozess: Sexuelle Gewalt gegen Kinder ist kein schwiemeliges Kavaliersdelikt. Es ist ein schweres Verbrechen, das Menschenleben zerstört. Und so sollte es auch behandelt werden.

© SZ vom 16.04.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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