Extremisten umwerben Europas Muslime:Das schleichende Gift der al-Qaida

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Die bisherigen Ermittlungen nach den Londoner Anschlägen zeigen: Die Terrorbewegung und ihre Gefolgsleute sind schwerer zu fassen denn je.

Von Nicolas Richter

Hinterher sagen alle: Nicht zu fassen, dass der nette junge Mann zu solchen Bluttaten in der Lage war. Zum Beispiel der Lehramts-Assistent Mohammed Sidique Khan, 30 Jahre alt, der an einer Grundschule in Leeds arbeitete. Eltern, Schüler und Lehrer fanden nur warme Worte für ihn. Freundlich, ruhig und ausgeglichen.

Oder Shehzad Tanweer, er war 22 Jahre alt, als er starb. Seine Familie war aus Pakistan gekommen, hatte sich beispielhaft integriert, der Junge hatte Sportwissenschaften studiert. Er galt als einer, der mit allen gut zurechtkommt. Einen Tag vor den Londoner Anschlägen vom 7. Juli spielte er noch mit anderen Fußball im Park.

Die acht Männer, die London am 7. und 21. Juli angegriffen haben, bildeten eine äußerst heterogene Gruppe. Es gab jene wie Khan und Tanweer, die scheinbar bestens integriert waren. Und es gab andere wie Muktar Said-Ibrahim, ein Brite, der aus Eritrea stammte. Er soll bei der zweiten Attacke eine der vier Bomben in dem Doppeldeckerbus platziert haben. Der 27-Jährige war im Jahr 1992 als Flüchtling nach Großbritannien gekommen.

Schon bald gehörte er einer gewalttätigen Jugendbande an und wurde knapp vier Jahre nach seiner Einreise wegen Raubes zu fünf Jahren Haft verurteilt. Vom Kleinkriminellen soll er sich im Gefängnis zu einem radikalen Muslim entwickelt haben, in den vergangenen Jahren wurde er mit Vollbart und im traditionellen Gewand gesehen.

Angepasst und ausgegrenzt

Drei Wochen nach dem ersten Londoner Anschlag ist eines klar: Selten unterschieden sich die unmittelbaren Täter eines islamistischen Terroranschlags derart. Angepasste, Integrierte, Ausgegrenzte finden sich unter ihnen.

Manche hatten Erfolg, obwohl sie ausländischer Abstammung waren, andere fühlten sich gerade deswegen benachteiligt und mussten, ohne Aussicht auf einen Job, von der Sozialhilfe leben. Gemeinsam ist ihnen, dass sie in Londons U-Bahnen und Bussen möglichst viele Unschuldige umbringen wollten.

Die Terroristenbewegung al-Qaida und die von ihr inspirierten Gruppen scheinen nach den Angriffen auf London schwerer zu fassen denn je. Den Terroristenführern gelingt es, unter den europäischen Muslimen nicht nur die Enttäuschten und Frustrierten zu werben, sondern auch jene, die - zumindest dem Anschein nach - ein geordnetes Leben führen. Für Geheimdienste und Kriminalpolizei ist es immer schwerer, einen bestimmten Tätertypus auszumachen.

Nach den Terroranschlägen vom 11. März 2004 in Madrid etwa sagte der spanische Ermittlungsrichter Baltasar Garzon, der einen spanischen Al-Qaida-Ableger zerschlagen hat: "Die Menschen, von denen sich dieser neue Terrorismus ernährt, waren ursprünglich von wirtschaftlich und kulturell niedrigem Niveau und hatten so gut wie keine Bildung. Seit 1998 werden auch technisch hoch qualifizierte Kräfte mit Universitätsausbildung von den Ideologen gefangen. Und in den islamistischen Bewegungen aus dem Magreb wird nun wieder bevorzugt in Randgruppen geworben".

Es könnte jeder sein

Mit anderen Worten: Es könnte jeder sein, der, aus welchem Grund auch immer, empfänglich ist für die Gehirnwäsche der Qaida-Extremisten. Armut und Verzweiflung allein aber reichen als Gründe nicht aus. Auch wer eine kleinbürgerliche Existenz führt, kann sich dafür entscheiden, jene Gesellschaft zu bekämpfen, in der er lebt.

Die Täter von Madrid und London hatten gemeinsam, dass sie nicht eingereist waren um zu bomben, sondern dass sie längst im Land waren und erst mit der Zeit zu gewaltbereiten Radikalen wurden. "Dieser Terrorismus ist nicht notwendigerweise international", sagte Garzon, "die meisten Täter waren schon lange in Spanien, legal oder illegal". Mit Grenzkontrollen ist diesem Feind nicht beizukommen, er reift im Inneren heran und schlägt irgendwann zu. Das Gift, das al-Qaida unter europäischen Muslimen versprüht, ist schleichend, und ein paar macht es zu Mördern.

Wer nun die Täter von London überzeugt hat, für den Islam zu töten, und wer die Operation steuerte, ist auch drei Wochen nach dem 7. Juli unklar. Eine Reihe von Spuren führt ins Ausland, was noch nicht heißen muss, dass der Terror von dort aus in Auftrag gegeben wurde. Zunächst gibt es den indischstämmigen Briten Harun Raschid Aswat, der in Sambia festgenommen wurde. Die britischen Behörden bestätigten, dass sie Kontakt zu dem Verdächtigten aufnehmen wollen. Umstritten blieb dagegen, ob er mit dem Terror in Großbritannien zu tun hatte.

Nach Darstellung von US-Medien fiel der Mann auf, weil die späteren Attentäter 20 Telefongespräche mit ihm geführt hatten. Aswat soll in der Nähe der späteren Gewalttäter in Nordengland gelebt haben, offenbar war er ein Vertrauter des radikalen Predigers Abu Hamsa al-Masri, der über Jahre in der Londoner Finsbury-Park-Moschee sein Unwesen trieb und der mittlerweile festgenommen wurde.

Es wäre nicht das erste Mal, dass Attentäter über Mobiltelefon mit einem Auftraggeber sprechen, ähnliche Telefonate wurden etwa vor dem Anschlag auf Djerba geführt, der im April 2002 deutsche Touristen traf und der sehr wahrscheinlich von al-Qaida ausging. Unklar ist aber, ob Aswat mit den Londoner Anschlägen zu tun hatte, und wenn ja, was. Er könnte Anführer gewesen sein oder bloß logistische Hilfe geleistet haben.

Die Ermittler interessierten sich derweil auch für die pakistanische Spur. Da mehrere Attentäter aus Pakistan stammten oder vor den Anschlägen dort waren, werden die Auftraggeber des Londoner Terrors dort vermutet. Diese These stützt auch ein in New York inhaftierter pakistanischstämmiger Amerikaner namens Mohammed Junaid Babar. Er hat den Londoner Attentäter Khan auf einem Foto wiedererkannt und soll - US-Medienberichten zufolge - den Ermittlern wertvolle Details zu den Hintergründen der Londoner Anschläge geliefert haben. Babar ist in Haft, weil er bereits im vergangenen Jahr vor Gericht gestanden hatte, al-Qaida unterstützt zu haben.

Unter anderem hatte er für eine pakistanische Zelle in London Grundstoffe für den Bombenbau besorgt - "für eine Verschwörung im Vereinigten Königreich". Der Plan flog aber auf, die britische Polizei nahm mehrere Verdächtige fest. Auch war Babar nach eigenen Worten bis Anfang 2004 in Pakistan, um dort Geld unter Extremisten zu verteilen. Das alles deutet darauf hin, dass es Zusammenhänge geben könnte zwischen Qaida-Anhängern in Pakistan und den Londoner Terroristen. Ein Beweis ist es freilich nicht.

Fallen für die eigenen Männer

Fest steht immerhin, dass der Horror in der britischen Hauptstadt weit größer ausfallen sollte. Wären die Bomben am 21. Juli planmäßig explodiert, hätte es wohl so viele Tote gegeben wie zwei Wochen zuvor. "Das waren keine Amateure", sagte Polizeichef Ian Blair in dieser Woche. "Sie haben einen Fehler gemacht, aber eben auch nur einen Fehler, und wir haben großes Glück gehabt." Die Gruppe vom 7. Juli hat außerdem am Bahnhof in Luton ein Auto zurückgelassen, in dem sich noch 16 Bomben oder Teile davon befanden. Eine der Bomben war mit Nägeln gefüllt.

Auch dieses verlassene Auto stellt die Ermittler vor eine Reihe von Fragen. Sollte eine weitere Tätergruppe diese übrigen Bomben dort abholen? Oder wollten die Täter des 7. Juli das vielleicht sogar selbst? Ermittler halten es für möglich, dass die Männer bei den Anschlägen gar nicht sterben wollten. Womöglich haben die Auftraggeber sie über den wahren Zeitpunkt der Explosion getäuscht. Al-Qaida kann man zutrauen, dass sie nicht nur dem verhassten Westen Fallen stellt, sondern auch den eigenen Leuten.

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