EU-Reformvertrag:Die ewige Mär von der Verschwörung

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Bei der Abstimmung über den EU-Vertrag stehen die Briten vor der Wahl zwischen zwei Übeln. Entweder wird er durch das Parlament geschleust, dann aber ohne klare öffentliche Zustimmung. Oder die öffentliche Zustimmung wird in einem Referendum gesucht - das aber wahrscheinlich verloren wird.

Timothy Garton Ash

In der britischen Europa-Debatte grüßt mal wieder das Murmeltier. Die Konservativen verlangen ein Referendum zur ruchlosen Brüsseler Verschwörung, Großbritannien heimlich eine europäische Verfassung aufzuzwingen. Die Regierung hält dagegen, mit gewundenen Ausreden.

Der Schein trügt, innerhalb der EU herrscht selten Gleichberechtigung und Einigkeit (Foto: Foto: ddp (Archiv))

Die euroskeptische Presse spricht von Foulspiel. "Europa'' ist etwas Schauderhaftes, das "uns" von "denen" zugefügt wird. Alle wesentlichen Argumente haben wir inzwischen millionenfach gehört, jeder gesunde Mensch ist inzwischen zu Tode gelangweilt.

Und dies, noch bevor es überhaupt einen Vertrag gibt, über den man abstimmen könnte. Der britische Parlamentsausschuss, der den jüngsten Krawall angefangen hat (mit der Behauptung, der vorgeschlagene EU-Reformvertrag sei doch derselbe wie der, den Franzosen und Holländer abgelehnt hatten) - dieser Ausschuss hat genau genommen nur seine Meinung zum EU-Gipfel vom Juni geäußert, als sich die Staats- und Regierungschefs auf Konturen einigten. Ende dieser Woche wollen sie eine detaillierte "politische Vereinbarung" über den Text erreichen; unterschriftsreif soll er erst zum Jahresende sein.

Wir wissen aber weitgehend, wohin die Reise geht. Zum Teil stärkt der Vertrag die erweiterte EU (durch Koordinierung der Außenpolitik), zum Teil rationialisiert er sie (durch eine kleinere Kommission). In gewisser Weise vergrößert er die Macht zentraler EU-Institutionen (durch eine qualifizierte Mehrheit bei Abstimmungen), aber er baut auch zusätzliche checks and balances ein, einschließlich der Möglichkeit für nationale Parlamente, bei Gesetzesplänen der EU die gelbe Karte zu ziehen.

Mehr als Herumgeflicke

Der Sprung wird jedenfalls kürzer sein als bei der Vereinbarung über den Binnenmarkt (unterschrieben von der konservativen Premierministerin Margaret Thatcher) oder beim Vertrag von Maastricht (unterschrieben vom konservativen Premier John Major). Aber es geht auch um mehr als um Herumgeflicke. Es ist also nicht zu früh zu fragen, ob wir darüber in Großbritannien ein Referendum abhalten sollten.

Hier nun fünf gute Argumente gegen ein Referendum - und ein schlechtes:

Der Vertrag war nie in erster Linie eine Verfassung. Und nun wird er es noch weniger sein. Er ergänzt nur die früheren Verträge, die eine Art kumulative Verfassung bilden. Es handelt sich also lediglich um einen weiteren Zusatzvertrag, nicht um einen neuen Gesamtvertrag.

Auch wenn es für andere weiterhin derselbe Vertrag sein mag - für Großbritannien ist er es nicht. Der neue Entwurf ist in seiner Substanz sehr nah an dem früheren, bei dem Tony Blair und die Labour Party vor der vergangenen Wahl ein Referendum zugesagt hatten. Aber der neue Premier Gordon Brown hat verschiedene Modifizierungen, Klarstellungen, Opt-out- und Opt-in-Klauseln ausgehandelt; zum Teil, weil sie ihm wichtig waren, hauptsächlich jedoch, um Rufe nach einem Referendum abwehren zu können.

Timothy Garton Ash (Foto: Foto: Getty Images (Archiv))

Großbritannien hat eine parlamentarische und keine plebiszitäre Demokratie. Als sie selber an der Regierung waren, wehrten die Konservativen alle Rufe nach einem Referendum über die viel größeren Änderungen des Maastricht-Vertrages voller Furcht ab. Welche Themen also sind groß genug für ein Referendum?

Schuss ins Knie möglich

Die Welt braucht eine stärkere Stimme Europas, und zwar jetzt. In jeder Dekade haben wir ein großes Thema angepackt: Den gemeinsamen Markt beschlossen wir in den Achtzigern, die einheitliche Währung in den Neunzigern, die historische Ost-Erweiterung in diesem Jahrzehnt. Das große Thema des nächsten Jahrzehnts wird sein, was Europa in der Welt jenseits seiner Grenzen (und für sie) tun wird.

Jahre haben wir damit verschwendet, uns über unsere institutionellen Vereinbarungen aufzuregen. Wir sollten aber unsere Vorschläge zu Russland, Iran und dem Klimawandel auf dem Tisch haben, wenn 2009 ein neuer US-Präsident ins Weiße Haus einzieht. Trotz aller Mängel würde dieser Vertrag uns helfen, endlich voranzukommen. Wenn wir ihn aufgeben, wird Europa weitere Jahre mit Nabelschau verplempern. Dann werden Russland und China über uns hinwegmarschieren, und der Planet wird überkochen.

Falls Großbritannien mit "Nein" abstimmte, würden wir uns selbst ins Knie schießen. Alleine kann Großbritannien als mittelgroßes Land nur einen Bruchteil der Ziele erreichen, die selbst Konservative proklamieren. Dafür brauchen wir ein funktionierendes Europa. Deshalb liegt dieser Vertrag auch in britischem Interesse.

Und nun das schlechte Argument: Hätten wir ein Referendum, würde die Regierung es verlieren. Das Drückeberger-Argument - immer von pro-europäischen Briten privat, aber nur privat vorgebracht. So gut ihre anderen Argumente auch sein mögen, entscheidend für sie ist immer dieses schlechte.

Aber unsere Aufgabe als Journalisten, Autoren und Akademiker besteht doch einfach darin, die Wahrheit zu schreiben. Und dies ist die Wahrheit. Würden britische Pro-Europäer annehmen, ein Referendum gewinnen zu können (wie 1975), würden sie sich vermutlich dafür entscheiden.

Unschön und unspektakulär

Solange dies so bleibt, werden Pro-Europäer und Labour-Minister immer schwach, defensiv und unredlich klingen. Auch wenn viele der Konservativen genauso unredlich sind. Wären sie an der Regierung, würden sie etwas sehr Ähnliches unterschreiben - so haben es alle konservativen Regierungen der vergangenen 35 Jahre getan, und ihr Parteichef David Cameron würde nicht anders verfahren.

Mit diesem Vertrag ist es wie mit dem Haushalt, den man daheim zu erledigen hat: unschön, unspektakulär, aber im Ganzen gut. Für Großbritannien, Europa und die Welt. Leider stehen wir hier in Großbritannien vor der Wahl zwischen mehreren Übeln: Entweder diese gute Sache wird durch die etablierten Prozeduren einer parlamentarischen Demokratie geschleust, dann aber ohne klare öffentliche Zustimmung, oder öffentliche Zustimmung wird in einem Referendum gesucht, das aber wahrscheinlich verloren wird. Nicht, weil die Gegner die besseren Argumente hätten, sondern weil es britischen Regierungen seit Jahrzehnten nicht gelingt, hier mit Argumenten einen Stich zu machen.

Welches aber ist nun das geringere Übel? Man sehnt sich förmlich nach offenem Kampf. Lasst die Trompeten erschallen, härtet die Sehnen, und lasst uns aus diesem Morast herausmarschieren. Zumindest würde es für Abwechslung am Murmeltiertag sorgen.

Timothy Garton Ash (52) ist Professor für Europäische Studien an der Universität Oxford.

© SZ vom 16.10.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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