EU-Gipfel:Vorwärts am Nasenring

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Die Vertragskrise der EU ist beendet. Ihre eigentliche europäische Aufgabe liegt aber noch vor Merkel und vor Deutschland: Europa wieder in Bewegung zu bringen. Der Weg dafür ist vorgezeichnet. Er führt über eine verstärkte Zusammenarbeit jener Länder, die schneller voranschreiten wollen als andere.

Martin Winter

Mutig in die Zukunft springen hat die Europäische Union zu Beginn dieses Jahrhunderts gewollt. Eine bedeutende Macht in der Welt hat sie werden wollen. Nun hat sie all ihre Kraft gebraucht, nur um von einem Abgrund wegzukriechen, den sie selbst aufgerissen hat.

Die Gefahr eines Zerbrechens der EU ist zwar fürs Erste gebannt. Aber wer seine letzten Reserven inklusive der Androhung einer Spaltung mobilisieren muss, nur um einen halbwegs akzeptablen Reformkompromiss hinzubekommen, der hat ein tief sitzendes Problem.

Der EU-Gipfel vom Wochenende hat offenbart: Den Mitgliedsländern fehlt eine gemeinsame Idee von Europa. Und einige, Großbritannien und Polen vor allem, aber auch viele Politiker in den neuen Mitgliedsländern und selbst das Gründungsmitglied Holland, denken bei der EU weniger daran, wie sie etwas mit den anderen zusammen gestalten, sondern nur, wie sie ein stärkeres Europa verhindern können.

Unter diesen Bedingungen hat die deutsche EU-Ratspräsidentschaft eine respektable Leistung gezeigt. Für Europa war es ein Glücksfall, dass sich in Angela Merkel eine tiefe europäische Überzeugung mit strategischem Geschick und einem bemerkenswerten Mut zum Risiko paart. Das institutionelle Gerüst der EU wird modernisiert, Entscheidungen können effizienter getroffen werden, es gibt einen Außenminister, auch wenn er nicht so heißen darf. Und die Charta der europäischen Grundrechte wird im Prinzip rechtsverbindlich. So ist einiges aus dem Wrack des vor zwei Jahren bei Volksabstimmungen in Frankreich und in den Niederlanden verunglückten Verfassungsvertrags gerettet worden.

Das bringt die EU in ruhigeres Gewässer und es verschafft ihr Raum, sich wieder den politisch drängenden Problemen der Globalisierung und der internationalen Sicherheit zu widmen. Daraus erwächst Europa aber nur dann Stärke im Wettbewerb mit den anderen Großen dieser Welt, wenn es seine Bremser und Verhinderer unter Kontrolle bekommt.

Minderheit am Nasenring

Zum Beispiel Großbritannien, das in der EU nur daran denkt, wie es seine Vetomöglichkeiten bewahren oder noch ausweiten kann. London hat seit Margaret Thatcher ein destruktives Verhältnis zur EU. Der künftige britische Premierminister Gordon Brown erweist sich schon heute als ihr würdiger Erbe. Auf sein Drängen sind in die jetzt beschlossene Reform so viele Hintertüren eingebaut worden, dass man von einem gemeinsamen europäischen Haus nicht mehr sprechen kann.

Zum Beispiel Polen, dessen gegenwärtige Regierung die EU zum Feld erwählt hat, Schlachten der Vergangenheit erneut gegen die Deutschen zu schlagen. Moskau dürfte mit Freude sehen, wie die Polen dabei sind, die Grundlage der europäischen Stärke zu zerstören: Die Entschlossenheit nämlich, durch gemeinsame Schritte in die Zukunft Rückfälle in die zerstörerische Vergangenheit zu verhindern. Hätten Robert Schuman und Jean Monnet nach dem Zweiten Weltkrieg so gedacht wie die Kaczynski-Brüder heute, dann hätte es eine europäische Einigung nie gegeben.

Das Elend der EU ist es, dass sich die Mehrheit um der Einheit der Union willen von der Minderheit am Nasenring herumführen lässt. Immerhin achtzehn Länder hatten dem Verfassungsvertrag zugestimmt. Aber gekämpft haben die Freunde der Verfassung dafür auf dem Gipfel nicht wirklich. So ziehen die Verhinderer ihre Stärke vor allem aus der Feigheit der anderen.

Wer aber Europa zu einem Mitspieler in der Welt machen will, was im wirtschaftlichen und sozialen Interesse seiner Bürger liegt, muss die Rücksicht auf die Querschießer aufgeben. Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien, Finnland und viele andere eint bei allen Unterschieden in der Betrachtung Europas der Wunsch, diese Union besser und erfolgreicher zu machen. Sie sollten dem Wunsch Taten folgen lassen.

Der Weg dafür ist vorgezeichnet. Er führt eben nicht über eine Spaltung der EU, sondern über eine verstärkte Zusammenarbeit jener Länder, die schneller voranschreiten wollen als andere. Und sollte das an formalen Einspruchsmöglichkeiten innerhalb der Gemeinschaft scheitern, dann muss es eben außerhalb geschehen.

Stagnation auf niedrigem Niveau

Die Europäer haben mit dieser Art avantgardistischen Mutes gute Erfahrungen gemacht. Nur so wurde der Weg zum grenzenlosen Europa frei oder auch der zum Euro. Es gibt von der Innen- und Justizpolitik über Wirtschaft und Soziales bis zu Bildung und Forschung und selbst in die Außenpolitik hinein genug Themen, die nach entschlossenem Handeln geradezu schreien.

Selbst wenn es für längere Zeit zu Zonen unterschiedlicher politischer Integration in Europa kommen sollte, ist das immer noch besser als Stagnation auf niedrigem Niveau. Und die Erfahrung zeigt, dass das Voranschreiten einiger eine große Sogwirkung hat. Zurückgelassen werden will nämlich am Ende niemand - nicht einmal die Briten.

Die Vertragskrise der EU ist beendet. Ihre eigentliche europäische Aufgabe liegt aber noch vor Merkel und vor Deutschland: Europa wieder in Bewegung bringen. Es dürfte Berlin nicht schwerfallen, dafür genug Partner unter den Freunden der Verfassung zu finden. Man muss nur den Mut haben, es zu wollen.

© SZ vom 25.6.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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