EU-Beitrittsverhandlungen:Das türkische Pflichtenheft

Lesezeit: 3 min

Die jüngsten Meinungsverschiedenheiten zwischen der EU und der Türkei drehten sich um die türkische Strafrechtsreform. Diese ist aber nur ein kleines Teil im großen Beitrittspuzzle. Was die EU von der Türkei verlangt, was noch im Argen liegt.

Von Bernd Oswald

Die EU verlangt von jedem Beitrittsaspiranten, dass er drei grundsätzliche Kriterien erfüllt:

Politisch: stabile Institutionen als Garantie für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, die Achtung der Menschenrechte sowie den Schutz von Minderheiten verfügen.

Wirtschaftlich: eine funktionierende Marktwirtschaft und die Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften innerhalb der Union standzuhalten.

Rechtlich: Übernahme des gesamten als Acquis communautaire bekannten EU-Rechts.

Ob diese Kriterien erfüllt sind oder nicht, ist eine politische Entscheidung, die der Europäische Rat, also die Ansammlung der Staats- und Regierungschefs der EU, treffen muss, und zwar auf Basis der für den 6. Oktober angekündigten Stellungnahme der EU-Kommission.

Der Europäische Rat von Brüssel kam im Dezember 2003 zu dem Schluss, dass die Türkei noch einige Reformen nachlegen muss, um EU-reif zu werden. Konkret meldete der Rat in seinen Schlussfolgerungen folgenden Reformbedarf an:

- die Justiz unabhängiger machen

- eine bessere Gewährleistung grundlegender bürgerlichen Freiheiten, insbesondere Vereinigungs- , Meinungs- und Religionsfreiheit

- Angleichung des Verhältnisses zwischen Militär und Zivilgesellschaft an EU-Standard

- die Situation im Südosten des Landes: Damit ist der inzwischen aufgehobene Ausnahmezustand in Kurdistan gemeint

- mehr kulturelle Rechte einräumen

- makro-ökonomische Ungleichgewichte beseitigen

- Strukturelle Mängel ausmerzen

- Willen, die Zypern-Frage zu lösen

Im Klartext heißt das: Die Türkei erfüllt keines der drei Kriterien in ausreichendem Maße. Die Schlussfolgerungen basierten auf dem letztjährigen Bericht der EU-Kommission über die Fortschritte der Türkei auf dem Weg zum Beitritt, in dem die oben genannten Aspekte erläutert werden.

Im Justizwesen beklagt die EU, dass die Rechte der Verteidigung und der Grundsatz eines fairen Verfahrens noch nicht gewährleistet seien. So ist zum Beispiel das Recht auf einen Anwalt nicht immer gewahrt. Berufungsverfahren gibt es zwar inzwischen, sie führen aber zumeist noch zu einer bloßen Wiederholung des vorherigen Gerichtsverfahrens.

Immer noch gibt es Fälle, in denen Türken wegen friedlicher Meinungsäußerung angeklagt werden. Bei einigen friedlichen Demonstrationen ging die Polizei unverhältnismäßig gewaltsam vor.

Immer noch Folter, aber nicht mehr systematisch

Die Religionsfreiheit ist in der Türkei verglichen mit europäischen Standards ernsthaft eingeschränkt, vor allem im Hinblick auf die fehlende Rechtsfähigkeit von Religionsgemeinschaften.

Die Korruption ist "hartnäckig auf hohem Niveau". Viele Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte seien nicht vollstreckt, Entschädigungszahlungen nicht geleistet und gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstoßende Beschlüsse nicht rückgängig gemacht worden.

Die Anzahl der Folterfälle ist nach Informationen der Kommission im Jahr 2003 zurückgegangen, es wurde aber immer noch über spezifische Fälle berichtet. EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen sagte nach seinem Gespräch mit dem türkischen Premier Erdogan am 23. September, nach Erkenntnissen einer von ihm nach Ankara entsandten Expertengruppe gebe es in der Türkei "keine systematische Folter" mehr.

Amnesty international spricht dagegen in seinem Jahresbericht 2004 von Folterungen und Misshandlungen, Straflosigkeit für Übergriffe seitens der Polizei, Schikanen gegenüber Menschenrechtsverteidigern, Gewalt gegen Frauen und Tötungen unter umstrittenen Umständen.

Nun wird mit Spannung der nächste Fortschrittsbericht der Kommission über die Türkei erwartet. Die Tatsache, dass die Strafrechtsreform, die so wichtige Punkte wie Gesetze gegen Vergewaltigung, Kinderschändung und Folter sowie eine generelle Einhaltung der Menschenrechte enthält, erst noch verabschiedet werden muss, ist ein Indiz dafür, dass sich im Vergleich zum Vorjahr noch nicht allzu viel getan hat. Zumindest was das politische Beitrittskriterium betrifft.

Da die Kommission in der EU aber nur das ausführende und nicht das entscheidende Organ ist, wird auch ihr nächster Türkei-Fortschrittsbericht sehr sachlich ausfallen und in jedem Punkt Verbesserungen und Missstände auflisten.

Deswegen sollte man die Aussage von Erweiterungskommissar Verheugen, dass er keine Hindernisse für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen sieht, nicht überbewerten. Das heißt nur, dass es zumindest eine durch Fortschritte erzielte Basis gibt, auf der man verhandlen kann. Es heißt nicht, dass die EU die Türkei aufnehmen soll, genausowenig wie es heißt, dass die EU die Türkei nicht aufnehmen soll.

Welche Schlüsse aus dem nächsten Fortschrittsbericht zu ziehen sind, sprich: ob die EU die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei überhaupt startet, ist Sache des nächsten EU-Gipfeltreffens am 17. Dezember 2004.

© sueddeutsche.de - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: