EU-Beitritt:Ratlos in Brüssel

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Die Kommission muss entscheiden, wie viel Zeit sie der Türkei gibt, um ihren Verpflichtungen nachzukommen.

Martin Winter

Es ist keine leichte Debatte, die die europäischen Kommissare am heutigen Mittwoch vor sich haben. Türkei, Zypern und die Beitrittsgespräche, das sieht gegenwärtig wie ein Unfall mit Ansage aus.

Wenn die 25 Lenker der Brüsseler Zentrale in ihrer wöchentlichen Sitzung über den ,,Fortschrittsbericht Türkei'' ins Brüten geraten, dann weniger wegen dessen Bewertungen. Die fallen gedämpft bis scharf aus.

Der Reformeifer Ankaras habe spürbar nachgelassen. Und in der Zypernfrage gebe es keine Bewegung. Sorgen macht den Kommissaren die Frage, welche Schlüsse sie - wenn überhaupt - daraus ziehen sollen. Da gibt es einen Streit zwischen jenen, die der Türkei mit dem Einfrieren bestimmter Teile der Beitrittsverhandlungen drohen wollen, weil Ankara das EU-Mitglied Zypern im Handel diskriminiert. Und jenen, die der Türkei noch Zeit bis zum EU-Gipfel Mitte Dezember geben wollen.

Für ein Abwarten haben sich in den vergangenen Tagen Kommissionspräsident José Manuel Barroso und Erweiterungskommissar Olli Rehn ins Zeug gelegt, und es sieht so aus, als ob ihnen die Mehrheit folgen wird. Barrosos Argument ist einfach: Man sollte alle Möglichkeiten bis zur letzten Sekunde offenhalten.

Eine Empfehlung für eine Einstellung der Beitrittsgespräche würde die noch laufenden Versuche der finnischen EU-Präsidentschaft gefährden, auf diplomatischem Weg eine Lösung im Zypern-Konflikt zu finden. Im Übrigen, sagen hohe Beamte, müsse die Kommission nur einen Bericht abgeben, aber keine Empfehlungen.

Europas Glaubwürdigkeit

Letzterem will sich die Kommission dem Vernehmen nach freilich nicht entziehen. Sie will nur etwas Zeit gewinnen. Sollte es in den kommenden vier Wochen keine zufriedenstellende Entwicklung in der Zypern-Frage geben, dann werde die Kommission den Staats- und Regierungschefs im Dezember raten, zur Tat zu schreiten und Teile der in über dreißig Einzelkapitel unterteilten Beitrittsgespräche auf Eis zu legen.

Die Basis dafür ist eine Erklärung der EU vom 21. September 2005. Damals war die Türkei in ungewöhnlich klaren und streckenweise scharfen Formulierungen aufgefordert worden, ihre Zollunion mit der EU vollständig auch auf Zypern anzuwenden. Was in der Praxis die Öffnung der See- und Flughäfen für Waren aus Zypern bedeutet.

Ankara wurde damals das Jahr 2006 als Frist gesetzt, was in Brüssel als ,,Ende 2006'' verstanden wird. Sollte die Türkei bis dahin ihren Verpflichtungen in der Handelspolitik nicht nachkommen, dann werde die EU ,,die Eröffnung der Verhandlungen über entsprechende Kapitel'' nicht vollziehen können. Das, sagen Diplomaten, sei das Mindeste, was die Türkei zu erwarten hätte. Und niemand glaubt in Brüssel, dass die EU es sich leisten wird, ihre Androhung nicht wahr zu machen.

Sollte die Regierung in Ankara nicht nachgeben, dann wird der Gipfel Sanktionen verhängen müssen, und sei es nur um der europäischen Glaubwürdigkeit willen. Es dürfte dann nur noch um die Frage gehen, wie viele Verhandlungs-Kapitel tatsächlich betroffen wären. So genau kann das keiner sagen. Zumindest stehen aber jene Teile zur Debatte, in denen es um Handels- und Wirtschaftsbeziehungen geht.

Ankara käme damit im Fall des Falles noch gut weg. Denn die Zyprioten oder die Franzosen haben nicht übel Lust, die Türkei durch das Einfrieren von deutlich mehr Kapiteln stärker abzustrafen. Weil das aber das Ende der Beziehungen zur Türkei einleiten könnte, setzt Barroso alles daran, solch einen Beschluss zu vermeiden. Und auf dem Gipfel dürfte der ebenfalls kaum eine Mehrheit, geschweige denn Einstimmigkeit bekommen.

Doch weder die Kommission noch der EU-Gipfel können entschlossene Türkei-Kritiker daran hindern, die Gespräche zum Erliegen zu bringen. Denn jedes Mal, wenn die Kommission ein neues Verhandlungskapitel mit Ankara eröffnen will, muss sie sich die Zustimmung der 25 Mitgliedsländer einholen.

Und das Votum muss einstimmig sein. Ein Veto-Land also genügt, den ganzen Beitrittsprozess zum Erliegen zu bringen. In zwölf Monaten Verhandlungen wurde bislang nur das Kapitel ,,Forschung'' eröffnet und abgeschlossen. Keines sonst.

© SZ vom 8.11.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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