EU-Beitritt der Türkei:Im Klub der Heuchler

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Nach dem Verfassungsdebakel, dem Haushaltsscharmützel und der lähmenden Großerweiterung muss die EU zunächst herausfinden, was sie im Innersten zusammenhält. Die Union ist zu schwach für die Türkei - und trotzdem sollten die Beitrittsverhandlungen beginnen.

Ein Kommentar von Stefan Kornelius

Die Europäische Union kann am Wochenende getrost dem Beginn der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zustimmen - der Beschluss wird nicht die Wirkung haben, die man heute in ihn hinein interpretiert.

Drei Modelle sind am Ende denkbar: Die Türkei wird in vielen, vielen Jahren Mitglied einer EU, die sich so weit vom Integrationsmodell der Jahrtausendwende entfernt hat, dass all die Befürchtungen über die Bedeutung des neuen Mitglieds übertrieben sein werden.

Zweitens: Die Türkei wird selbst aus dem Beitrittsprozess ausscheiden, weil schon bald starke nationale Kräfte sie zur Umkehr zwingen. Oder Modell drei: Sollte Europa gegen alle Erwartungen zu seiner alten Kraft zurückfinden, wird der Beitritt am Ende von denjenigen Nationen verhindert, deren Bürger in Referenden über die Mitgliedschaft entscheiden.

Die Abstimmung am Sonntag ist also mit einem gerüttelt Maß an Heuchelei verbunden. Der österreichischen Regierung gebührt das Verdienst, dass sie offen ausspricht, was eine Mehrheit der Bürger denkt: Ein Beitritts-Versprechen wird nicht einzulösen sein.

Heimliche Unterstützer Österreichs

Österreich legt sich deshalb auch nicht in erpresserischer Absicht zugunsten seines Schutzbefohlenen Kroatien quer. Sondern sein für Mehrheitsstimmungen sehr sensibler Kanzler Wolfgang Schüssel weiß, dass er sich heimlicher Unterstützung in Europa sicher sein kann - auch von Angela Merkel in Berlin.

Eigentlich müsste die EU eine andere Frage beantworten, bevor an diesem Montag die Beitrittsgespräche beginnen: Welcher Union soll die Türkei eigentlich beitreten? Nach dem Verfassungsdebakel, dem Haushaltsscharmützel und der lähmenden Großerweiterung um zehn Staaten ist es nämlich so, dass die EU zunächst herausfinden muss, was sie im Innersten zusammenhält.

Keine neue Erweiterung ist denkbar, ohne dass die wichtigsten Fragen beantwortet sind: Wofür ist die Union da? Wie viel Souveränität geben die Nationalstaaten ab? Und nach welchen Regeln funktioniert dieser Riesenverein?

Nach der Erweiterung um die zehn Staaten Mittel- und Osteuropas im Jahr 2004 zeichnen sich die Antworten bereits ab: Die EU wird wieder nationalstaatlicher, die Reichen werden die Armen nicht aufpäppeln wollen, es wird unterschiedliche Zirkel für unterschiedliche Aufgaben geben, und mehr Integration - also die Zentralisierung und Vereinheitlichung der Politik in Brüssel - wird nur schwer durchzusetzen sein.

Die EU verliert also an Kraft, selbst ihr wichtigstes außenpolitisches Instrument - das Beitrittsversprechen - wird bei den Kandidaten nicht mehr den Reformeifer auslösen wie einst. Die Anziehungskraft des Bündnisses geht verloren, potenzielle Mitglieder fragen zu Recht, ob die Aufnahme die Mühsal wert ist und finanziell belohnt wird. Sie werden nach einer Kosten-Nutzen-Rechnung dankend ablehnen.

"Brücke zum Islam"

In dieser Logik wäre eine Mitgliedschaft der Türkei in einer finanzschwachen, nationalstaatlicheren Union lediglich ein geostrategischer Zugewinn ("Brücke zum Islam"). Viel wahrscheinlicher ist aber, dass eine geschwächte EU uninteressant wird für die Türkei, die von ihrer nationalen Stärke nicht lassen kann und von Brüssel vor allem Markt und Mittel erwartet.

Dennoch sollten die Beitrittsgespräche nun beginnen, weil so viel selbstkritische Ehrlichkeit von den EU-Außenministern nicht zu erwarten ist. Grundsatzdiskussionen sind zu diesem Zeitpunkt, wo die EU am Boden liegt, auch unklug.

Die im Dezember beschlossene Formulierung zu den Türkei-Verhandlungen und die politische Diskussion dieser Tage machen hinreichend deutlich, dass der Beginn der Gespräche keinen Automatismus auslöst. Die politische Vernunft geböte es freilich, dass sich die EU zunächst über ihre Aufnahmefähigkeit Gedanken macht, ehe sie sich durch Überdehnung weiter marginalisiert.

© SZ vom 1.10.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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