Erster Prozesstag im Fall Daschner:Unter einem Steg an einem kleinen See

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Wie der Frankfurter Polizei-Vizepräsident Daschner sich dafür rechtfertigt, dass er einem Kindesentführer drohte.

Von Hans Holzhaider

Auf die Minute um 9.30 Uhr betritt Wolfgang Daschner mit seinem Verteidiger Eckart Hild den Gerichtssaal, pünktlicher kann niemand sein.

Äußerlich gelassen erträgt er den Ansturm der Fotografen und Kameraleute an diesem Donnerstag, er senkt den Blick nicht. Neben ihm hat der Kriminalhauptkommissar Ortwin E. Platz genommen, er wird verteidigt von Professor Lutz Simon, der drei Doktortitel besitzt - der Jurisprudenz, Philosophie und Theologie. Auf sein Plädoyer darf man schon heute gespannt sein.

Einmalig inder deutschen Rechtsgeschichte

Der Fall, den die 27. große Strafkammer am Landgericht Frankfurt zu verhandeln hat, ist einmalig in der bundesdeutschen Rechtsgeschichte. Dass bei polizeilichen Vernehmungen Gewalt angedroht oder auch tatsächlich angewendet wird, mag durchaus schon vorgekommen sein.

Aber dass ein hoher Polizeibeamter die Androhung von Gewalt aktenkundig macht, dass er ein Verfahren gegen sich geradezu herausfordert, dass er die Justiz dazu zwingt, Stellung zu beziehen und zu urteilen darüber, was zulässig ist und was nicht im Umgang mit Tatverdächtigen in Extremsituationen - das hat es noch nicht gegeben.

Wie auch immer dieser Prozess enden mag - der Frankfurter Polizeivizepräsident Wolfgang Daschner hat schon jetzt Rechtsgeschichte geschrieben.

Daschner, 61 Jahre alt, seit 41 Jahren im Polizeidienst, hat eine schriftliche Erklärung vorbereitet. Er will offensichtlich nichts dem Zufall oder der momentanen Emotion überlassen. Es ist ein Ablaufsprotokoll der Ereignisse von der Entführung des elfjährigen Jakob von Metzler am Freitag, dem 27. September 2002 um 10.15 Uhr bis zum Morgen des darauf folgenden Dienstags um 9.07 Uhr, dem Zeitpunkt, zu dem der Tatverdächtige Magnus Gäfgen mitteilte, wo er die Leiche des Kindes versteckt hatte.

Eine Rechtfertigungsschrift

Daschners Erklärung ist auch eine Rechtfertigungsschrift. Bei aller kühlen Präzision der Darstellung geht es ihm doch auch darum, die ungeheure Anspannung zu vermitteln, in der er die Entscheidung traf, dem mutmaßlichen Entführer Gewalt anzudrohen, um ihn zur Preisgabe seiner Kenntnisse zu bewegen.

Akribisch listet Daschner auf, welchen Gefährdungen Jakob von Metzler ausgesetzt, wie dringend deshalb ein rasches Auffinden des Kindes gewesen sei. Wie der Körper auf Unterkühlung, wie auf den Entzug von Flüssigkeit reagiere.

"Normalerweise stirbt ein Mensch schon nach maximal vier Tagen ohne Flüssigkeit. Von diesen vier Tagen waren am Abend des 30. September schon dreieinhalb Tage vergangen", sagt Daschner. Er erinnert an andere Entführungsfälle und sagt, als "ultima ratio" habe er seinen Führungsstab beauftragt, ein "abgestuftes Gesamtkonzept" zu erarbeiten und dabei "die Androhung und gegebenenfalls Anwendung unmittelbaren Zwangs zu berücksichtigen, soweit dieser zur Rettung des Lebens unabwendbar war".

Dem Polizeiführer war nach eigener Darstellung bekannt, dass in NRW bei zwei Kindesentführungen unter ähnlichen Umständen die Androhung von Gewalt erörtert und von der Staatsanwaltschaft als durch das Polizeigesetz gedeckt beurteilt worden sei.

"Den Rest der Nacht", fährt Daschner fort, nimmt zum ersten Mal die Brille ab und hebt den Blick vom Manuskript, "habe ich damit verbracht, mir den Kopf zu zermartern und nach einer Lösung aus dieser nahezu ausweglosen Situation zu suchen."

In dieser Nacht aber machte der Entführer Gäfgen neue Aussagen, die alle Pläne zur Makulatur werden ließen. Er beschrieb eine Hütte an einem See, wo Jakob von zwei Brüdern bewacht werde. 900 Beamte schwärmten aus, sie fanden in einer Hütte, auf die die Beschreibung passte, eine Schlafstätte in Kindergröße und Blutspuren. Die angeblichen Bewacher fand man schlafend in ihren Betten, sie wussten von nichts.

Nur noch zwei Möglichkeiten

"Die Situation der polizeilichen Führungskräfte war von äußerster Anspannung geprägt", sagt Daschner. "Es bestand auch die Befürchtung, schon zu lange zugewartet und damit den Tod des Kindes mitverschuldet zu haben." Jetzt hätten für ihn nur noch zwei Möglichkeiten bestanden: "Notfalls mit Androhung unmittelbaren Zwangs auf den Tatverdächtigen einzuwirken oder den qualvollen Tod des Kindes billigend in Kauf zu nehmen."

Unvorstellbar war es für Daschner nach eigenen Worten, "die Vollendung eines Mordes an einem entführten Kind unter staatlicher Aufsicht zuzulassen".

Deshalb wies er den Hauptkommissar Ortwin E. an, Gäfgen erneut zu befragen und ihm "unmittelbaren Zwang" anzudrohen. Falsch sei die Darstellung, er habe sich vor dieser Entscheidung "Rückendeckung" im hessischen Innenministerium eingeholt, sagt Daschner. Er habe die vorgesetzte Behörde über seine Absichten lediglich informiert, dies sei "zustimmend zur Kenntnis genommen" worden, rechtliche Bedenken seien nicht erhoben worden.

Den Namen seines Gesprächspartners will Daschner nicht nennen.

Dann schildert der Kommissar Ortwin E. die 25 Minuten, die er allein mit Magnus Gäfgen im Vernehmungszimmer verbrachte. Er habe dem Jurastudenten zwar die Überlegung übermittelt, ihm Schmerzen zuzufügen, aber das sei es nicht gewesen, was den Täter schließlich dazu gebracht habe, das Versteck der Leiche zu verraten.

"Ich hatte verschiedene Bilder vor Augen", sagt der Kommissar, "zum Beispiel, dass Jakob lebendig in einer Kiste begraben ist, er ist geknebelt, er ist verletzt, ich dachte an seine Verzweiflung und an sein angsterfülltes, um Hilfe flehendes Gesicht. Diese Bilder habe ich Gäfgen vor Augen geführt, ständig und sehr eindringlich. Es dauerte nur wenige Minuten, bis er sagte, dass die Leiche des Jakob unter einem Steg an einem kleinen See im Vogelsberg liegt."

© SZ vom 19.11.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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