Erfahrungsberichte:Opfer, denen niemand glaubt

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Die Kommission zur Aufarbeitung von Kindesmissbrauch resümiert: Vergehen gibt es in allen Schichten und Regionen.

Von Markus Mayr, Berlin

Sie habe "manchmal Wache stehen" müssen, erzählt Leonie, während sich ihr Großvater an ihrer Schwester verging. Als sie ein paar Jahre später im Sexualkundeunterricht begriff, "dass das, was mein Opa macht, nicht richtig ist", wandte sie sich an die Mutter. Und die - half. Bei Fällen von sexuellem Missbrauch innerhalb von Familien ist das empirisch keine Selbstverständlichkeit, hat nun die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs festgestellt.

Seit einem Jahr wertet sie die Erfahrungsberichte von Erwachsenen aus, die in ihrer Kindheit unter sexueller Gewalt zu leiden hatten. Oft erhielten sie keine oder nur späte Hilfe. Leonies Schicksal steht exemplarisch für noch 200 andere, die bereits gehört wurden, und viele weitere, die noch gehört werden sollen. Exemplarisch ist es gerade deshalb, weil Leonies Mutter sich doch noch mitschuldig machen sollte.

Missbrauch kommt in allen Schichten, allen Regionen und allen Familientypen vor

Am Mittwoch haben Kommissionsmitglieder ihren Zwischenbericht - das Mandat läuft bis März 2019 - in Berlin vorgestellt. "Diese Gewaltform steckt in der DNA unserer Gesellschaft", sagte Matthias Katsch, selbst Betroffener und ständiger Gast der Kommission. Die Aufarbeitung vergangener Vergehen habe gerade erst begonnen. Die Arbeit des Ausschusses ist in Deutschland bislang einzigartig. Seine Vorsitzende Sabine Andresen betonte, dass Missbrauch in Familien in "allen Schichten, Familientypen und Regionen Deutschlands" vorkomme. Forscher der Universität Regensburg etwa gehen davon aus, dass 15 bis 30 Prozent aller Mädchen und fünf bis 15 Prozent aller Jungen Opfer von sexueller Gewalt werden.

Ein wiederkehrendes Merkmal in den Erfahrungsberichten von Opfern sei es, dass ihnen nicht geglaubt wurde und dass es an Unterstützung der Schule und der Jugendämter mangelte. Später, als Erwachsene, rutschten sie deshalb wegen psychischer Spätfolgen leicht in Armut ab. Die rechtlichen oder bürokratischen Hürden, um an eine Entschädigung zu gelangen, seien zu hoch. 70 Prozent der Betroffenen, die sich bisher an die Kommission gewandt haben, wurden von Angehörigen oder Menschen aus dem Umfeld missbraucht. Andere berichteten von sexueller Gewalt in Institutionen wie Kinderheimen oder Kirchen, oder durch fremde Täter. Mehr Frauen als Männer meldeten sich, alle im Alter zwischen 30 und 50 Jahren.

Mütter werden dem Bericht zufolge eher nicht zu aktiven Tätern. Vielmehr verschließen sie, wie andere Angehörige auch, die Augen vor den Grausamkeiten und unterstützen so Väter, Großväter, Onkel, Bekannte. Nachdem Leonies Großvater von ihrer Mutter aus dem Kinderzimmer verbannt wurde, begann bald darauf ihr Vater, sie zum Geschlechtsverkehr zu zwingen. Als Leonie die Mutter wieder ins Vertrauen zog, reagierte die anders als zuvor und schimpfte: "Du machst die Familie kaputt." Als Leonie alt genug war, zog sie fort. "Kinder und Jugendliche, die sexuellen Missbrauch erfahren, verlieren ihr Zuhause", sagte Andresen. Die Aufarbeitung solcher Straftaten sei eine gesellschaftliche Verantwortung. Andresen forderte deshalb, die Finanzierung der Kommission über 2019 hinaus zu sichern. "Der Bedarf ist da, die Mittel nicht."

© SZ vom 16.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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