E-Mail vom Everest Teil 9:Das Scheitern

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Der Münchner Medizinprofessor Klaus Mees erforscht zurzeit am Mount Everest die Höhenkrankheit.

Von Klaus Mees

Aufstiegsversuche, 8300 Meter über dem Meer - Über dem Gipfellager ziehen Wolken auf und entladen ihre Schnee- und Eisfracht, der Wind nimmt zu, am Gipfel weht die typische Schneefahne. Bereits in der Früh habe ich mich gewundert, warum die Sonne nicht durchkommt. Normalerweise treffen die ersten Sonnenstrahlen kurz nach fünf Uhr das Zelt am Nordgrat. Ich entscheide mich für den Abstieg.

Denn der auffrischende Wind bedeutet ein höheres Risiko für Erfrierungen, und ich möchte doch mit allen Fingern und Zehen zurückkommen. Auch steigt die Lawinengefahr nach Neuschneefällen gewaltig an. Das Umkehren fällt mir alles andere als leicht. Es gibt genug andere, die ein höheres Risiko eingehen. Die Südseite meldet inzwischen eine hohe Quote an Gipfelerfolgen, da kann man auf der Nordseite richtig neidisch werden.

Am 20. Mai wollte ich einen neuen Versuch starten. Doch bis zum 24. ist das Wetter leider schlecht geblieben, es schneit bis in den Gipfelbereich, wegen des tropischen Wirbelsturms über dem Golf von Bengalen. Täglich fallen bis zu 50 Zentimeter Schnee, es ist spürbar kälter geworden. Am 25. sollen unsere Yaks kommen, einen Tag später werden wir uns ins untere Basislager zurückziehen.

Für einen zweiten Versuch bleibt wohl keine Zeit mehr. Natürlich bin ich enttäuscht, dass ich die restlichen 550 Höhenmeter bis zum Gipfel nicht mehr erleben kann, andererseits bin ich mit mir zufrieden: 8300 Meter ohne zusätzlichen Sauerstoff ist am Everest heute eher die Ausnahme. Einige nutzen die "russische Luft" bereits ab 7000 Meter, viele ab 7500 Meter; sie ziehen locker und leichtfüßig an einem vorbei.

Etliche werden vom Berg besiegt

Trotz des deutlich schlechteren Wetters versuchen immer noch viele Bergsteiger den Aufstieg. Aber etliche, die den Berg "besiegen" wollen, werden letztlich selbst besiegt, denn aus der Gipfelzone des Everest gibt es keinen raschen Rückzug. Die dünne Luft, die Auskühlung im Wind, der Flüssigkeitsverlust, die weitere Eindickung des Blutes und die Verschlechterung der Blutzirkulation, die Appetitlosigkeit und der drohende Unterzucker sind Leistungskiller.

Es häufen sich die Schreckensmeldungen: Drei Koreaner sterben am Gipfelgrat, ihr Trinkvorrat ist offenbar gefroren und sie können das Gleichgewicht nicht mehr halten. Eine Japanerin ist zu erschöpft, sie stürzt am "Second Step", einer etwa 20 Meter hohen Steilstufe am Gipfelgrat in den Tod. Auf 7500 Meter erliegt eine Koreanerin ihrem Höhenhirnödem. Ständig gibt es neue Notrufe. Viele Bergsteiger sitzen in der Höhe fest, Sauerstoff- und Gasvorräte gehen allmählich zur Neige.

Vieles von dem war vorhersehbar. Warum wurden die Warnzeichen missachtet? Weil man über ein halbes Jahr lang hart trainiert hat, weil man finanzielle Opfer gebracht hat und vielleicht auch, weil man in der Pflicht steht: sich selbst, Angehörigen oder Sponsoren gegenüber. Wer sich noch rechtzeitig für den Abstieg entscheidet, kommt gezeichnet vom Berg. Die meisten sind schneeblind und haben Erfrierungen. Aber sie leben.

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