Drama im Kaukasus:Geiselnehmer lassen 26 Frauen und Kinder frei

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Eine Gegenleistung für die Freilassung hatten die Terroristen nicht gefordert. In der Schule in Nordossetien befinden sich noch mehr als 300 Personen in der Gewalt eines mutmaßlich tschetschenischen Kommandos. Immer wieder sind Schusswechsel und Explosionen zu hören.

Mit der Freilassung von 26 Frauen und Kindern ist Bewegung in das Geiseldrama in einer südrussischen Schule gekommen. Die in Beslan in der Kaukasusrepublik Nordossetien verschanzten Geiselnehmer ließen die Gruppe nach stundenlangen Verhandlungen frei, wie ein Vertreter des russischen Krisenstabs mitteilte. Mehr als 300 weitere Geiseln befanden sich jedoch noch immer in den Händen der Kidnapper, die eine Versorgung ihrer Gefangenen verweigerten.

Ein Soldat bringt die freigelassenen Frauen, Säuglinge und Kleinkinder in Sicherheit. (Foto: Foto: Reuters)

Um das Leben der Geiseln nicht zu riskieren, schloss die russische Regierung den Einsatz von Gewalt vorerst aus. Seine Regierung setzte auf Verhandlungen, sagte Präsident Wladimir Putin.

Die Freilassung sei ein "erster Erfolg", der durch die Vermittlungsbemühungen des früheren Präsidenten von Inguschetien, Ruslan Auschew, möglich geworden sei, sagte Lew Dsugajew vom Krisenstab. Der im Kaukasus angesehene Auschew, ein Kritiker der Moskauer Tschetschenien-Politik, nahm offenbar eine Schlüsselrolle bei den Verhandlungen ein.

Um eine Vermittlung bemühte sich auch der Kinderarzt Leonid Roschal, der auch beim Moskauer Geiseldrama im Oktober 2002 eingeschaltet worden war. Zunächst wurde per Telefon verhandelt. Die Geiselnehmer weigerten sich, einen Behördenvertreter zu empfangen, sagte Nordossetiens Innenminister Kasbel Dsantijew.

Vor den Freilassungen war ein leerer Bus mit 50 Sitzplätzen vor das Gebäude gefahren und hatte innerhalb der Absperrung der Sicherheitskräfte geparkt.

Zuvor hatten die schwer bewaffneten Geiselnehmer nach Angaben des russischen Einsatzkommandos mit Granaten auf zwei Autos geschossen, die sich ihrer Ansicht nach zu sehr der Schule genähert hatten. Die beiden lauten Explosionen hatten die Angehörigen in Angst und Schrecken versetzt.

Die Geiselnehmer drohen, die Schule in die Luft zu sprengen, sollten die Sicherheitskräfte versuchen, sie zu stürmen. Das Schulgelände war Sicherheitskräften und gepanzerten Fahrzeugen abgeriegelt.

Putin: Russland als Ganzes angegriffen

Putin sagte im Fernsehen, Leben und Gesundheit der Geiseln hätten Vorrang. Alle Aktionen der Sicherheitskräfte seien dem untergeordnet. Die Geiselnehmer in der Teilrepublik Nordossetien an der Grenze zu Tschetschenien hätten nicht nur "russische Bürger, sondern Russland als Ganzes angegriffen", sagte Putin.

Der Chef des Inlandsgeheimdienstes FSB in Nordossetien, Waleri Andrejew, schloss eine Stürmung der Schule mit Waffengewalt aus. "Es gibt keine Alternative zum Dialog", sagte er. Er rechne mit langen und zähen Verhandlungen. Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) bot der russischen Regierung ein Lazarettflugzeug der Bundeswehr für einen möglichen Einsatz an.

Nach Angaben des tschetschenischen Kreml-Beraters Aslambek Aslachanow verlangten die Geiselnehmer den Abzug der russischen Truppen aus Tschetschenien, ein Ende aller Militäraktionen in der abtrünnigen Kaukasusrepublik sowie die Freilassung aller Rebellen, die im Juni nach spektakulären Angriffen in Inguschetien mit mehr als 90 Toten verhaftet worden waren.

Tschetschenischer Rebellenführer verurteilt Geiselnahme

Der tschetschenische Rebellenführer Aslan Maschadow verurteilte die Geiselnahme. Er sprach zugleich von einer "verzweifelten unmenschlichen Antwort" auf die von Russland in Tschetschenien verübten "Verbrechen gegen die Menschlichkeit".

Nach Angaben russischer Beamter waren die Geiselnehmer zunächst nicht bereit, Lebensmittel, Wasser und Medikamente für ihre Geiseln anzunehmen, die zum Teil an chronischen Krankheiten wie Diabetes leiden.

Zwölf Menschen, unter ihnen einer der mindestens 17 Geiselnehmer, waren laut Innenministerium zu Beginn des Geiseldramas am Mittwochmorgen getötet worden.

Verbindung zu al-Qaida

Laut Krisenstab hatte das Überfallkommando 354 Menschen in seine Gewalt gebracht, unter ihnen etwa 130 Kinder. Diese Zahl ist nach Auffassung der Angehörigen weit untertrieben. Die New York Times, die nach eigenen Angaben Kontakt mit einem Sprecher der Geiselnehmer aufgenommen hatte, berichtete, das Kommando stehe dem tschetschenischen Kriegsherrn Schamil Bassajew nahe.

Unter den Geiselnehmern sind nach Angaben des Einsatzstabes auch einige Frauen mit Sprengstoff-Gürteln, so genannte Schwarze Witwen.

Bei den Terroristen handelt es sich um ein Selbstmordkommando mit Verbindung zu den tschetschenischen Rebellen sowie zum internationalen Terrornetzwerk al-Qaida.

Mehrere Geiselnehmer stammen aus Tschetschenien

Die russischen Sicherheitsbehörden haben Mitglieder des Geiselkommandos in Nordossetien identifiziert. Das sagte der Chef des Inlandsgeheimdienstes FSB in der russischen Kaukasusrepublik, Waleri Andrejew, machte aber keine weiteren Angaben.

Mehrere der Geiselnehmer stammten aus den Nachbarrepubliken Tschetschenien und Inguschetien, meldete die Nachrichtenagentur Ria Nowosti unter Berufung auf nordossetische Sicherheitskreise. Weitere der 17 Mitglieder des Überfallkommanos gehörten anderen Nationalitäten an. Die Identität der meisten Terroristen sei den Ermittlern bekannt, teilte ein Sprecher mit.

Die New York Times hatte zuvor berichtet, sie habe mit einem der Entführer telefoniert. Dieser habe sich als Mitglied einer Organisation ausgegeben, die dem tschetschenischen Kriegsherren Schamil Bassajew untersteht.

Viele Angehörige der Geiseln verbrachten die Nacht auf Donnerstag trotz heftigen Gewitters und Regens in der Nähe des weiträumig abgesperrten Schulgeländes im nordossetischen Ort Beslan.

Augenzeugen berichteten aus Beslan, dass während der Nacht immer wieder Schüsse aus Maschinenpistolen vom abgesperrten Schulgelände zu hören gewesen seien.

Was es damit auf sich habe, sei aber unklar, hieß es. Angehörige der Geiseln beklagten in diesem Zusammenhang auch die mangelnde Information durch die russischen Behörden.

UN-Sicherheitsrat verurteilt Geiselnahme

Der Weltsicherheitsrat in New York verurteilte die Geiselnahme sowie den blutigen Selbstmordanschlag in Moskau vom Dienstag und die Terroranschläge auf die russische Flugzeuge in der vergangenen Woche.

Das Gremium rief alle Regierungen auf, mit den russischen Behörden zusammenzuarbeiten, um die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.

Weiter hieß es in der Erklärung des Sicherheitsrats: "Terror in allen seinen Formen und Ausprägungen stellt eine der ernsthaftesten Bedrohungen für den Weltfrieden und die internationale Sicherheit dar." Kein Terrorakt sei zu rechtfertigen, ungeachtet der Beweggründe der Täter.

US-Präsident George W. Bush rief Putin an und bot ihm die Hilfe der USA bei der Lösung der Geiselkrise an.Bush habe betont, dass die USA und Russland Seite an Seite gegen den Terror kämpften, erklärte Putins Presseamt.

Deutsche Bundesregierung fordert Freilassung

Die Bundesregierung hat am Donnerstag die sofortige Freilassung der Geiseln in Nordossetien gefordert. Es gebe keine Rechtfertigung dafür, "Schulkinder als Geiseln zu nehmen und diese mit dem Tod zu bedrohen", erklärte Bundesaußenminister Joschka Fischer (Grüne) in Berlin. Die Bundesregierung verurteile diesen "Terrorakt" auf das Schärfste.

Putin verschiebt Türkei-Reise

Unter dem Eindruck des Geiseldramas hat der russische Präsident Wladimir Putin seinen für Donnerstag geplanten Besuch in der Türkei verschoben.

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