Die Arbeit der Abgeordneten zwischen Brüssel und Straßburg:Das missverstandene Parlament

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Am 13. Juni wählen die Bürger eine neue europäische Volksvertretung - der Einfluss der Kammer wird von vielen noch immer unterschätzt.

Von Cornelia Bolesch

Brüssel - Das Zentrum der Macht der Völker Europas ist eine Baustelle. Zwei riesige Gruben klaffen dort, wo zusätzliche Büros und Konferenzräume für Abgeordnete aus zehn neuen EU-Staaten entstehen. Kabel werden verlegt, neue Dolmetscherkabinen installiert.

Auf der neunten Etage im glitzernden Parlamentsgebäude hält Generalsekretär Julian Priestley in einem geräumigen Büro mit Panorama-Blick die Stallwache. Im Nervenzentrum des Europaparlaments ist es sehr ruhig. Die meisten Abgeordneten sind aus ihren Arbeitswaben in alle europäischen Himmelsrichtungen in den Wahlkampf aufgebrochen.

Bevor Julian Priestley jüngste Erfolge und Niederlagen in Europas Viel-Völker-Kammer referiert, berät der britische Verwaltungschef schnell noch den deutschen Europaabgeordneten Klaus Hänsch. Der SPD-Politiker hat noch in Brüssel zu tun. Er vertritt das Parlament in den zähen Verhandlungen der europäischen Regierungen über eine neue EU-Verfassung.

Jetzt will Hänsch von Priestley wissen, ob sich das Parlament auf den angepeilten Kompromiss über die künftigen Haushaltsrechte der Abgeordneten einlassen könne.

Gewaltig gestört

Der Generalsekretär ist für solche Auskünfte der richtige Mann: Er war Büroleiter von Hänsch, als der SPD-Mann 1994 EU-Parlamentspräsident wurde; als Chef der Verwaltung schließlich ist Priestley seit 1996 ohnehin ¸¸Mädchen für alles" im Hohen Europäischen Haus.

Er dirigiert 3500 internationale Beamte, die sich um reibungslose Abläufe, korrekte Übersetzungen und fachlichen Rat in einer Volksvertretung bemühen, die auf der Welt ihresgleichen sucht: Seit 25 Jahren praktiziert man hier das einzigartige Experiment grenzüberschreitender Demokratie.

Bald werden 732 Abgeordnete in mindestens sieben politischen Fraktionen und zwanzig Sprachen an verbindlichen Gesetzen für 25 Staaten arbeiten. Allein in den vergangenen fünf Jahren hat das Europaparlament 403 solcher Gesetze mit entschieden. Vieles, was den Alltag der Bürger berührt, wurde von den EU-Abgeordneten in hunderten von einzelnen Anträgen auf den Weg gebracht:

Etwa, dass wichtige Sportereignisse unverschlüsselt im Fernsehen übertragen werden.

Dass alte Autos auf Kosten der Hersteller entsorgt werden können. Oder dass Kühe nur solches Futter fressen dürfen, das auch den Menschen nicht schadet. ¸¸Europaabgeordneter ist kein Glamour-Job", betont Generalsekretär Priestley, sondern ¸¸unglaublich harte Arbeit". Umso enttäuschter ist der europhile Brite, dass ¸¸viele Leute immer noch glauben, das Parlament spiele kaum eine Rolle".

Fest steht: Zwischen diesem wichtigen EU-Organ und seinen potentiellen Wählern herrscht eine gewaltige Kommunikationsstörung. Das zeigt allein ein Blick in die Statistik. 1979 hatten noch 63 Prozent der europäischen Wähler die Chance genutzt, ihre Europaabgeordneten erstmals direkt zu bestimmen. Bei der Wahl 1999 war das Interesse dann EU-weit auf 49,8 Prozent abgesackt, obwohl das Parlament immer neue Kompetenzen bekommen hatte.

Inzwischen drückt es mehr als der Hälfte aller EU-Vorhaben seinen Stempel auf. Das Europaparlament verteilt auch erhebliche Geldsummen und mischt in der Personalpolitik mit. Ohne seine Zustimmung gelangt keine Kommission in ihr Amt und kein Euro-Wächter ins Direktorium der Europäischen Zentralbank.

Doch je mächtiger die Abgeordneten wurden, umso mehr wandten sich die Wähler von ihnen ab - in der fatalen Fehleinschätzung, es handle sich bei diesem parlamentarischen Wanderzirkus, der sowohl in Brüssel als auch in Straßburg tagt, um nicht mehr als eine internationale Schwatzbude.

Selbst europäische Bildungsbürger wie Günter Grass tun sich schwer mit diesem parlamentarischen Unikat. Da meinte der Schriftsteller kürzlich allen Ernstes im Radio, die EU-Volksvertretung sei doch sowieso nur ein ¸¸Spielparlament".

Zum Zerrbild des EU-Parlaments trägt bei, wenn einige Medien so tun, als mogelten alle Europaabgeordneten systematisch bei ihren Reiseabrechnungen. Oder als sei der ohnehin aussichtslose Vorstoß einer Hand voll Parlamentarier gegen ¸¸Überraschungseier" ein Generalangriff auf Europas Kinderzimmer. Doch das schlechte Image des Europaparlaments liegt nicht nur an diesen Grobheiten der Medien.

Das meint jedenfalls die liberale niederländische Abgeordnete Lousewies van der Laan. Sie hat das Europaparlament vorzeitig verlassen. Eine Parlaments-Karriere in Den Haag erschien ihr aussichtsreicher. Sie hat erkannt: ¸¸Die europäischen Arbeitsmethoden sind den meisten Bürgern noch fremd".

Das Europaparlament ist keine internationale Version des Bundestages. Hier toben keine Schaukämpfe zwischen einer Regierung und einer Opposition. Stattdessen schnurrt zwischen den Fraktionen ständig die Kompromiss-Maschine. Im Europaparlament ist auch die mächtige christdemokratische Fraktion EVP, die zuletzt 232 von 626 Stimmen auf sich vereinigte, nur ¸¸die größte Minderheit", wie der französische Abgeordnete Jean-Louis Bourlanges einmal befand.

¸¸Dieses Parlament muss jeden Tag die Welt neu ordnen" - immer wieder werden dabei neue Allianzen geschmiedet. Doch auch eine stabile politische Mehrheit im Parlament kann alleine nichts bewirken. Nur im Zusammenwirken mit dem Rat der Regierungen kann das Parlament die Gesetzesvorschläge der Kommission verändern.

Das mag man verwirrend nennen - aber warum nicht auch spannend?

In dieser Europa-Maschinerie kann es nämlich passieren, dass sich plötzlich eine linke Mehrheit im Europaparlament findet, die in letzter Minute überraschend die Hafen-Richtlinie kippt. Sie hätte es Schiffseigentümern erlaubt, auch eigenes Personal in den Häfen zu beschäftigen. Tausende Dockarbeiter in Europa hatten vor dieser ¸¸Billig-Konkurrenz" gewarnt.

Ein zweites Überraschungsei hat das Parlament gelegt, als es denkbar knapp die Übernahme-Richtlinie der Kommission zu Fall brachte. Damit sollten grenzüberschreitend ¸¸feindliche Übernahmen" von Unternehmen geregelt werden. Vor allem die Bundesregierung hatte sich heftig gegen die ¸¸Aufweichung" bestehender Abwehrmaßnahmen gewehrt. Das Europaparlament stellte sich hinter den Bundeskanzler. Zu den Nein-Sagern zählten parteiübergreifend allein 98 der 99 deutschen EU-Abgeordneten.

Von dem politischen Spielraum, den das Europaparlament dem einzelnen Abgeordneten bietet, können Hinterbänkler in den meisten nationalen Hauptstädten nur träumen. Der junge Finne Alexander Stubb, der sich nach langen Jahren in der finnischen EU-Vertretung in Brüssel jetzt um einen Platz im Europaparlament bewirbt, gibt auf seiner Homepage als wichtigsten Grund für seine Entscheidung sogar an: ¸¸Ein aktiver Europaabgeordneter hat mehr Macht als ein nationaler Minister". Das ist eine gewagte These, doch viele Lobbyisten entdecken die Einflussmöglichkeiten des Parlaments.

Mehr als 3000 Interessenvertreter aus allen Branchen sind beim Europaparlament registriert und versuchen, die Abgeordneten in ihre Richtung zu ziehen. So wird das neue Europaparlament über eines der wichtigsten politischen Projekte der EU überhaupt entscheiden: die umstrittene Chemikalien-Reform.

Es geht darum, in welchem Umfang künftig gefährliche Chemikalien registriert und kontrolliert werden. Der Bund für Umwelt und Naturschutz hat im Europawahlkampf schon einmal dreißig Europakandidaten der Union als ¸¸Giftzwerge" geoutet. Sie hätten bereits im alten Parlament ¸¸gegen den Schutz von Mensch und Umwelt" gestimmt.

Spannende Weichenstellung

¸¸Wenn die Linken im nächsten Europaparlament stärker sind, gibt es mehr Reformdruck für Umweltgesetze oder Soziales. Gewinnen die Rechten geht es mit der Marktliberalisierung voran" - nicht nur der Wissenschaftler Simon Hix von der London School of Economics erwartet von der neuen großen Volksvertretung aus 25 Staaten spannende Weichenstellungen. Veränderte Konstellationen deuten sich an: Da droht etwa die französische Partei UDF, die Fraktion der Christdemokraten zu verlassen und zusammen mit Liberalen und italienischen Linken eine neue Europa-Fraktion zu gründen.

UDF-Chef Francois Bayrou wirft dem deutschen EVP-Chef Hans-Gert Pöttering vor, er habe den Hals nicht voll genug gekriegt und die EVP ¸¸anti-europäischen Kräften" wie den britischen Tories ausgeliefert. Und gleich zwei Deutsche gehen ins Rennen für hohe Ämter: Anti-Berlusconi-Held Martin Schulz von der SPD will Fraktionschef der Sozialisten werden. Hans-Gert Pöttering strebt das Amt des Parlamentspräsidenten an.

Fehlt nur noch jemand, der die Wähler für das spannende Programm interessiert. Pat Cox, Ex-Fernsehmoderator und scheidender Parlamentspräsident aus Irland, mobilisiert in diesen Tagen sein ganzes Kommunikationstalent: ¸¸Wenn es das Europaparlament nicht gäbe, müsste man es erfinden", meint er. Kürzlich lagen bei Pat Cox neueste Umfrage-Zahlen auf dem Tisch. Danach haben nur 45 Prozent der Wahlberechtigen fest vor, bei der nächsten Europawahl ihre Stimme abzugeben. Der Präsident dieser mächtigen, aber so missverstandenen Volksvertretung nutzte den Anlass zu einem allerletzten Weckruf: ¸¸Gehen Sie zur Wahl. Europa gehört Ihnen."

© Süddeutsche Zeitung vom 29. Mai 2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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