Deutschlands erster tauber Abgeordneter:Stille Post im Parlament

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Er ist jung, politisch engagiert und taub: Martin Zierold ist der erste taube Parlamentarier in Deutschland. In seine Rolle hat er schnell hineingefunden, mit kleinen Tricks mischt er als - fast - gewöhnlicher Abgeordneter mit. Eine Begegnung.

Caroline Ischinger

Martin Zierold tut so, als stünde vor ihm auf dem Holztisch ein Suppenteller und als hätte er einen Löffel in der Hand. Er sieht ziemlich gelangweilt aus, während er diesen imaginären Suppenteller leert. Aber plötzlich verzieht er das Gesicht, die Augen hinter den Brillengläsern sind weit geöffnet. Sein Blick fragt: Was ist da auf einmal drin? So beschreibt Zierold seine Rolle in der Bezirksverordnetenversammlung Berlin-Mitte (BVV). Der 26-Jährige ist der erste gehörlose Parlamentarier in Deutschland.

Martin Zierold im Rathaus Berlin-Mitte, er ist dort Abgeordneter der Grünen in der Bezirksverordnetenversammlung und der erste taube Abgeordnete in Deutschland überhaupt. (Foto: Foto: Regina Schmeken)

Im September landete er über Listenplatz 14 der Grünen in der BVV. Zierolds Gesten mit dem Suppenteller sind Teil seiner Muttersprache, der Deutschen Gebärdensprache. Eine Dolmetscherin übersetzt, was er mit Mimik und schnellen Handbewegungen erläutert: "Plötzlich ist in der Suppe ein ungewohntes Gewürz drin." Das Gewürz, das ist er. Zierold hat den politischen Betrieb in seinem Bezirk aufgerüttelt. Aber wie funktioniert das, ein Tauber in der Politik?

Das Rathaus Mitte an der Karl-Marx-Allee ist im Politiktheater der Hauptstadt eigentlich eher eine Nebenbühne. Bezirksverordnete können im Gegensatz zu den Parlamentariern im Bundestag keine Gesetze beschließen, streng genommen ist die BVV Teil der Verwaltung und kein echtes Parlament. Und trotzdem ist Zierolds Einstieg in die Politik auch außerhalb der Bezirksgrenzen von Bedeutung. Gerade haben die Berliner Grünen Zierold als Delegierten für die Bundesversammlung nominiert, er soll den Bundespräsidenten wählen.

Etwa 80.000 Gehörlose leben nach Angaben des Deutschen Gehörlosen-Bundes in Deutschland, in der Politik spielten sie bislang keine Rolle. Auch europaweit gibt es nur sehr wenige taube Parlamentarier. Umso mehr Augen sind nun auf Zierold gerichtet. Er kann die Neugier verstehen, es stört ihn nicht besonders, dass er nun vor allem wegen seiner Behinderung in der Öffentlichkeit steht.

Kurz nach der Wahl habe er sich noch etwas benommen gefühlt, räumt er ein. Dann habe ihn das Wissen über seine Vorreiterrolle aber nur noch mehr motiviert, sich einzumischen. Und wie er durch das Rathaus eilt, der junge Mann in Cordhose und grünem Pulli, da wirkt er noch immer ziemlich elektrisiert von seiner neuen Aufgabe.

Alle sind Feierabendpolitiker

Wie seine Kollegen im Rathaus Mitte ist Zierold jetzt Feierabendpolitiker, ehrenamtlich. Hauptberuflich arbeitet er als Betreuer in einem Jugendclub für Hörende und Gehörlose, außerdem ist er Dozent für Gebärdensprache. Nun verbringt er viele Abende im Rathaus, in Ausschüssen und Fraktionssitzungen, er ist auch fachpolitischer Sprecher für die Themen soziale Stadt und Inklusion geworden.

Damit er seine Kollegen verstehen kann und sie ihn, begleiten ihn zwei Gebärdensprachdolmetscher. Eine Kommunikationsassistentin protokolliert zusätzlich, was Zierold sonst nicht mitbekommt, etwa das Gemurmel in der SPD-Fraktion am anderen Ende des Tisches. Der Bezirk übernimmt die Kosten für die Dolmetscher in den BVV- und Ausschusssitzungen sowie für Außentermine, es werden wohl etwa 50.000 Euro jährlich sein.

In dem kleinen politischen Rahmen, den ihm sein Amt bietet, will er sich dafür einsetzen, dass behinderte Menschen mehr am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können. Nicht nur, aber eben auch in der Politik.

Martin Zierold ist taub zur Welt gekommen, wie seine Eltern und seine Großeltern. "Ich habe unglaublich viel aushalten müssen", sagt er. In Dresden hat er eine Realschule besucht. Er hätte gerne Abitur gemacht, aber in Deutschland gibt es kaum Schulen, an denen das für Gehörlose möglich ist. Die Schulbildung von tauben Kindern sei zu sehr darauf ausgerichtet, ihnen Lippenlesen und Sprechlaute beizubringen, statt sie in der Gebärdensprache zu unterrichten, sagt Zierold. In seiner Schulzeit führte das manchmal sogar dazu, dass Mitschüler übersetzen mussten, was die Lehrer wollten. Denn das Lippenlesen sei viel zu ungenau: Die Wörter "Butter" und "Mutter" etwa seien kaum zu unterscheiden.

Seine Gebärden sind jetzt so schnell geworden, dass die Dolmetscherin ihm kaum noch folgen kann, sie hakt nach. "Ich will das einfach nach außen bringen", übersetzt sie. Nur wie? Wie führt ein Tauber zum Beispiel Wahlkampf? Als die Grünen im Herbst in Mitte um Wählerstimmen warben, spielte Zierold eine kleine Rolle, die großen Reden hielt ohnehin die frühere Bundesgesundheitsministerin Andrea Fischer. Sie trat als Spitzenkandidatin der Grünen im Bezirk an.

"Wie, du bist aktiv in der Politik?"

Zierold verteilte Flyer, er hat aber auch Wahlkampftexte als Videos mit Gebärdensprache umgesetzt. Wenn an den Infoständen Hörende auf ihn zukamen und Fragen stellten, hat er sie an Parteifreunde weitergeleitet. "Ich bin locker damit umgegangen", betont er. Ein paar Mal kamen auch Taube vorbei. Sie konnten es kaum fassen: "Wie, du bist aktiv in der Politik?" Nach der Wahl fragte ihn ein Kollege, warum er in Sitzungen nicht von den Lippen ablese. Aber dort wird schnell gesprochen, durcheinander und pausenlos. Sogar für Zierolds Gebärdensprachdolmetscher ist es ein Kraftakt. "Denen rauchen dann die Köpfe", sagt er.

Privat lebt Zierold in einer Wohngemeinschaft, vier Taube und drei Hörende unter einem Dach. Die Gesellschaft ist noch nicht so weit. Zierold stört es zum Beispiel, wenn Hörende den Begriff "taubstumm" benutzen. Auch im Duden steht, warum das Wort als diskriminierend empfunden wird: Taube Menschen können sich sehr wohl ausdrücken, sie sind nicht stumm. Sie nutzen eben ihre eigene Sprache, die Gebärdensprache. Auch das Wort "gehörlos" gefällt Zierold nicht, es konzentriert sich auf das, was fehlt. Schlicht und einfach "taub" gefällt ihm am besten.

Wie schnell ein taubes Mitglied in einem Bezirksparlament andererseits auch zur Normalität wird, lässt sich an einem späten, kalten Nachmittag im Ausschuss für Transparenz und Bürgerbeteiligung beobachten. Zweiter Rathausstock, ein langer Tisch unter grellem Deckenlicht. Auf der Tagesordnung steht ein Antrag der CDU-Fraktion, es geht um einen digitalen Sitzungskalender, eine eher dröge Debatte.

Martin Zierold hat den Kopf auf die Arme gestützt, er wirkt angestrengt, konzentriert sich auf die Dolmetscher, die ihm gegenübersitzen. Die quirlige Ausschussvorsitzende, Katja Dathe von der Piratenpartei, wirbelt fast noch mehr mit den Händen als Zierolds Assistenten. Als sie einen Scherz macht, lachen die Mitglieder. Es dauert einen Moment, bis auch Zierold begreift, was die Runde bewegt - da lächelt er müde.

Flüstern für Taube

Neben ihm sitzt Andrea Fischer. Bezirksbürgermeisterin ist sie im September nicht geworden, aber sie sitzt als Fraktionskollegin von Zierold in der BVV. Fischer atmet schwer, kritzelt auf ihren Unterlagen herum, dann plädiert sie dafür, die Forderungen des Ausschusses in "kleine Häppchen" aufzuteilen. Zierold schreibt etwas auf einen Zettel und schiebt ihn ihr zu. Die Ex-Ministerin schmunzelt.

"Wir haben das gemacht, was andere mit Flüstern machen", sagt Fischer später. Zierold kann seine Kommentare den Kollegen vielleicht nicht zuraunen, aber auch er beherrscht den Smalltalk der Politik: stille Post. "Er arbeitet aktiv mit", lobt Fischer noch. Logisch gebe sie ihm dem einen oder anderen Rat, so mache sie das aber immer bei Neulingen.

Nach 100 Tagen ist Martin Zierold allmählich angekommen im neuen Amt. "Ich liebe es", lautet seine vorläufige Bilanz. Die Gebärde für Politik - zwei Finger, die in der offenen Handfläche gedreht werden - steht auch für Wörter wie Technik und Plan. Die Techniken der Politik muss Zierold erst noch lernen - seine ersten Schritte im Rathaus in Mitte, sie werden klein sein. Doch so zackig wie er durch die Flure eilt, kommt er bestimmt gut voran.

Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version des Artikels war von "Gebärdendolmetschern" die Rede. Die Twitter-Userin @EinAugenschmaus weist darauf hin, dass die korrekte Bezeichnung Gebärdensprachdolmetscher lautet. Wir haben das entsprechend ausgebessert. Zudem haben wir die Zahl der Gehörlosen korrigiert.

© SZ vom 23.02.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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