Deutsche Bischofskonferenz:"Reformen sind eine Chance"

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Die katholischen Bischöfe verlangen tief greifende und langfristige Reformen des Sozialstaats. Sie müssten an den Interessen der sozial Schwachen und künftiger Generationen ausgerichtet werden, sagte der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Karl Lehmann, in Berlin bei der Vorstellung eines neuen Sozialpapiers.

(SZ vom 13.12.2003) - Nachfolgend Auszüge aus der Schrift mit dem Titel "Das Soziale neu denken. Für eine langfristig angelegte Reformpolitik".

Reformen sind notwendig. Deutschland verträgt keinen weiteren Stillstand. Sollen Solidarität und Gerechtigkeit angesichts struktureller Massenarbeitslosigkeit und demografischen Wandels wiederhergestellt und gesichert werden, brauchen wir einen Aufbruch, der das Soziale neu denkt. Denn eine Gesellschaft, die ihre sozialen Sicherungssysteme nicht neuen Herausforderungen anpasst, gefährdet ihren inneren Zusammenhalt; eine Gesellschaft, die auf Dauer die Spaltung von Arbeitsplatzbesitzern und Arbeitslosen hinnimmt, kündigt Solidarität auf; eine Gesellschaft, die nicht mehr auf die nächste Generation hin lebt, hat ihre Zukunft und Zukunftsfähigkeit schon verspielt.

Der demografische Wandel, die Aushöhlung von Solidaritätsformen wie der Familie, die anhaltende Arbeitslosigkeit, die europäische Integration und die Globalisierung erzwingen grundlegende Veränderungen unseres sozialpolitischen Arrangements, unserer sozialen Sicherungssysteme, unseres Steuersystems. Dieser Zwang stellt keineswegs nur eine Gefahr dar, die Reformen sind eine Chance.

Eindruck von Kurzatmigkeit

Auch wenn in den letzten Monaten in die deutsche Politik Bewegung gekommen ist und endlich wieder politisch um die besseren Konzepte gestritten wird, reichen die Vorschläge nicht immer tief und weit genug. Die derzeitige politische Diskussion zeigt, dass es nicht genügt, immer neue Ad-hoc-Kommissionen ins Leben zu rufen, die immer neue Pläne für eine Rentenreform, für eine Gesundheitsreform, für eine Reform des Arbeitsmarktes und der Bildungssysteme entwickeln. Viele bezweifeln mittlerweile aus Erfahrung, dass solche Ad-hoc-Arbeitsgruppen nachhaltig und auf längere Sicht wirken.

Dies führt zum öffentlichen Eindruck einer unberechenbaren, unsystematischen, kurzatmigen und kurzfristig angelegten Politik, der wenig Vertrauen entgegengebracht wird. Zudem bleibt ungewiss, inwieweit einmal als notwendig erkannte Reformen tatsächlich so umgesetzt werden, dass sie ihrem Ziel gerecht werden, und nicht erneut durchsetzungsstarke Interessengruppen die Reformmaßnahmen zu ihren Gunsten beeinflussen. Jetzt muss es darum gehen, den vielen verschiedenen Reformansätzen eine gemeinsame Perspektive zu geben und sie zu einem langfristigen Reformpfad auszubauen und zu verstetigen.

Sicher ist eines: Wenn wir nichts ändern, keine Reformen wagen, setzen wir den Sozialstaat aufs Spiel. Wenn nichts getan wird, werden im Ergebnis die Schwachen die Leidtragenden sein. Es mangelt an Institutionen, die den Blick auf das Ganze und auf eine nachhaltige, zukunftsorientierte Politik richten: Im Bereich der Sozialpolitik fehlt es an einer unabhängigen Forschungsinfrastruktur, die politikrelevantes Wissen bereitstellt. Und dies, obwohl die Gestaltungsverantwortung des Staates hier weit unmittelbarer ist als im Bereich der Wirtschaftspolitik.

Die Würde des Menschen verlangt in jedem Fall die Sicherung eines Existenzminimums. Jedem Menschen ist eine freie Entfaltung und die Teilhabe an den öffentlichen Gütern zu ermöglichen. Subsidiarität bedeutet die Förderung von Eigenverantwortung statt Fremdverantwortung, von Selbstständigkeit statt Abhängigkeit. Eine Gesellschaft wird nur dann solidarisch sein, wenn sie dem Einzelnen und den kleineren Einheiten einen möglichst weit reichenden eigenverantwortlichen Spielraum gibt. Sie wird nur dann dem Leitbild der Subsidiarität entsprechen, wenn sie dem Einzelnen und den kleineren Einheiten bei Überforderung Hilfe gewährt.

Erstens muss alles, was als "Sozialpolitik" verstanden wird, an seinen Folgen für die Menschen, vor allem für die Ausgeschlossenen und kommenden Generationen, gemessen werden - und nicht nur an der guten Absicht oder an der Binnenlogik der Systeme. Zweitens müssen alle jene Politikfelder zur Sozialpolitik in Bezug gesetzt werden, die außerhalb der traditionellen Sozialpolitik angesiedelt sind, die aber für die soziale Entwicklung viel entscheidender sein können als vieles, was innerhalb der Sozialpolitik mit viel Aufwand gepflegt wird.

Kompetenzen klarer ziehen

Deutschland steuert auf den Zusammenbruch seiner Sozialsysteme zu, wenn es nicht gelingt, in den kommenden Jahrzehnten den Bevölkerungsrückgang zu stoppen und jungen Menschen eine gute Ausbildung zu ermöglichen. Für die Gesellschaft gilt: Ohne Kinder gibt es keine Zukunft.

Zumindest folgende zwei Reformen scheinen notwendig: Erstens sollten die Grenzen zwischen den Kompetenzen des Bundes und der Länder klarer gezogen und die Politikverflechtung verringert werden. Zweitens muss die Kompetenzverteilung zwischen Bundes- und Landesebene dem Subsidiaritätsprinzip entsprechen. Sie sollte deshalb hinsichtlich der Möglichkeit einer stärkeren Dezentralisierung überprüft werden.

Der Deutsche Bundestag und seine zuständigen Ausschüsse, aber auch das Statistische Bundesamt oder der Bundesrechnungshof müssen zeit- und anforderungsgerecht gestärkt und verpflichtet werden, ihrer bereits bestehenden Aufgabe auch tatsächlich nachzukommen. So ließe sich beispielsweise - vergleichbar einer ähnlichen Einrichtung in den USA - im Rahmen des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages ein selbstständiges sachverständiges und parteipolitisch neutrales "Assessment Center" einrichten.

Seine Aufgabe wäre es, jede Gesetzgebungsmaßnahme mit einem kurz-, mittel- und langfristigen Auswirkungsgutachten zu versehen. Auch der Bundesrechnungshof wird eine neue Rolle spielen, wenn er in gewissem Umfang prospektive Einschätzungen abgäbe, die der Politik Handlungsalternativen aufzeigen würden.

Für einen Sozialstaats-TÜV

Wir halten es deshalb für notwendig, einen regelmäßigen "Sozialstaats-TÜV" zu etablieren. Er soll dazu beitragen, Wissenslücken zu füllen, das Wissen unterschiedlicher Bereiche und Wissenschaften zusammenbringen, die Funktionen von Bund, Ländern und Kommunen aufeinander zu beziehen und dadurch Transparenz und eine umfassendere Perspektive auf die anstehenden Probleme zu schaffen. Die Kirchen sollten zu dem Sozialbericht regelmäßig auf der Grundlage ihrer Sozialethik Stellung beziehen.

Der deutsche Sozialstaat umfasst derzeit fast ein Drittel des Bruttosozialproduktes. Sein Umbau ist ein langwieriger und komplexer Prozess, der sich nur im Horizont von Jahrzehnten erfolgreich bewerkstelligen lässt. Was jetzt ansteht, sind ein Wandel der Mentalitäten und eine gemeinsame Neubesinnung auf Grundlagen, Werte und Ziele des Zusammenlebens in einer Zeit des Wandels und der Krise und das heißt immer auch: der Gefahren und der Chancen.

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