Der Terror und die Freiheit:In der Falle

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Die mutmaßlichen Täter von London sind keine Barbaren im ursprünglichen Sinn - sie gehen mit einer instrumentellen Rationalität vor, die zu den Errungenschaften des Westens zählt. Der wiederum hat dem Terror nur die ganz und gar irdische Würde des maßvollen Rechts entgegenzusetzen. Kommentar von Andreas Zielcke.

Man muss die Briten bewundern, die auf die Anschläge in London so gefasst reagiert haben.

Niemand käme auf die Idee, dies einer stoischen Unempfindlichkeit zuzuschreiben, viel eher einer historisch gefestigten Selbstgewissheit, deren Kraft auch das tief getroffene Gemüt zu beherrschen vermag.

Die Anschläge sind in ihrer Unmenschlichkeit von Tony Blair zu Recht als "barbarisch" gebrandmarkt worden. Dennoch, barbarisch im ursprünglichen Sinn sind diese Terrorakte nicht, das ist es ja, was ihr wahres Unheil ausmacht: Sie wurden nicht von Wilden verübt, die aus unzivilisierten Fernen mit roher Gewalt in unsere Gesellschaften einbrechen.

Nein, die mutmaßlichen Täter entstammen einer hochzivilisierten Kultur, sind, wenn es denn stimmt, von Motiven geleitet, die sich auf eine der großen Religionen dieser Erde berufen, und gehen mit einer instrumentellen Rationalität vor, die zu den Errungenschaften des Westens zählt. Kurz, ihre Ziele und Methoden sind uns längst viel vertrauter, als es uns lieb sein kann.

Der Schrecken, den sie verbreiten, rührt von der grimmigen Entschlossenheit, mit der ihr Gewissen, das absolut mit sich im Reinen ist, auf den maximalen Blutzoll ihrer Opfer aus ist.

Die Geschichte des Morgen- und des Abendlandes kennt seit den Kreuzzügen diesen Extremismus des reinen Gewissens, später als finsteres Ideal kultiviert im "terreur" der französischen Revolution. Die Tyrannei der Tugend, die sich eins weiß mit den höchsten Werten, Christus oder Allah oder der volonté générale, bauscht sich auf zu einem hysterischen Kult, einer suggestiven Mystifizierung der höheren Gewalt, die zu jeder Grausamkeit gegen Andersgläubige fähig ist, weil sie kein Maß hat außer sich selbst.

Dass darin, neben der Unmenschlichkeit, eine ungeheuerliche Blasphemie steckt, weil die Täter sich als oberste Richter über "Ungläubige" an die Stelle des Gottes setzen, dem sie angeblich so ergeben dienen, gehört zu den Perversionen des absoluten Gewissens. In London hat es sich jetzt wie vorher in Madrid oder New York einmal mehr seine bösartig-gutgläubige Genugtuung verschafft.

Ungleicher Kampf

Der Westen hat diesem Pathos der spirituellen Selbstübersteigerung bei aller ebenso grimmigen Entschlossenheit, mit der er den Abwehrkampf gegen den Terror aufnimmt, nur die ganz und gar irdische Würde des maßvollen Rechts entgegenzusetzen, über das sich die Attentäter mit so großer, blutiger Geste erheben.

Analog zu Kants Diktum aber, dass selbst mit einem "Volk von Teufeln" ein rechtliches und friedliches Zusammenleben möglich sein muss, "wenn sie nur Verstand haben", kann und muss der Westen genau auf dieses "Teufel komm raus" darauf setzen, mit dem islamistischen Terror fertig zu werden, ohne seine konstituierenden ethischen Maximen zu verraten.

Dass diese Maximen, bindend wie sie sind, ein gewaltiges strategisches Handikap gegenüber den von allen Hemmungen befreiten Terroristen darstellen, macht das ganze Dilemma des ungleichen Kampfes aus.

Auch wer noch so prinzipienfest ist, streite er für oder gegen die zunehmende Verschärfung der anti-terroristischen Sicherheitspolitik, kommt nicht gegen die Schizophrenie an, die dieser Kampf auslöst und aus der es für den Westen auf lange Sicht kein Entrinnen mehr gibt.

Keiner steht für diese Werte- und Persönlichkeitsspaltung mehr als George W. Bush, der in einem Atemzug Demokratie und Angriffskrieg, realpolitische Vernunft und normativen Furor, Freiheit und Entrechtung propagiert und praktiziert.

Aber auch jede gemäßigtere Politik entkommt nicht der Falle, dass der Kampf gegen den Terrorismus die Freiheitsspielräume desto stärker einschnürt, je skrupelloser die Terroristen diesen Freiraum missbrauchen. Die fatalen Folgen für den Westen sind kaum mehr zu überschätzen.

Es gehört darum zu den seltsamsten Euphemismen der Anti-Terrorpolitik, dass man nach jedem furchtbaren Anschlag - wie auch jetzt wieder die gesamte Runde der G-8-Regierungschefs - mit fester Überzeugung betont, der Terror werde "nicht siegen". Wie man diese Botschaft angesichts der bislang schon so verheerenden Erfolge des Terrors glaubhaft verbreiten kann, bleibt eines der Geheimnisse der demokratischen Psychologie.

Mit einem Schlag

Die makabre Erfolgsgeschichte des Terrorismus reicht ja weit über die Tragödien der Morde, Verstümmelungen und zerstörten Familien hinaus. Selbst wenn man nur die immateriellen Folgen betrachtet und die riesige materielle Belastung durch viele Hundert Milliarden Euro unberücksichtigt lässt, die allein in den Etats der Industriestaaten jährlich für "homeland security" und alle sonstigen anti-terrorbezogenen Infrastrukturen, Aktionen und Kriege zu Buche schlagen: Die Bilanz ist erdrückend.

Zu ihr gehört vor allem die dauerhafte Etablierung des Wissens um die Bedrohung, das tief in die Köpfe der westlichen Nationen eingedrungen und der eigentliche Auslöser der meisten Sicherheitsanstrengungen ist - realistische und imaginierte Bedrohung sind schwer zu unterscheiden.

Eine latente Pathologisierung der Terror-Risikogesellschaft liegt nahe. Dies um so mehr, als der westlichen Kultur das Unbehagen an sich selbst seit langem eigen ist. Wenn dann die Zivilisationskritik, die Islamisten an ihr üben, mit der westlichen Bereitschaft zu Selbstkritik zusammenfällt (ein Symptom wie Guantanamo), werden auf verwirrende Weise wunde Punkte verstärkt.

In jedem Fall aber wird unendlich viel Energie, Intelligenz und Sorge gesellschaftlich absorbiert und auf die Abwehr der nicht zu fassenden Bedrohung umgelenkt. Dass damit eine Militarisierung der politischen Kategorien einhergeht, ist vielfach beschrieben worden - bis hin zu der lauernden Absurdität des martialischen Denkens: "Der ewige Krieg", wie es Gore Vidal sarkastisch formuliert, "für den ewigen Frieden".

Zu der Bilanz gehört natürlich der Abbau gesetzlicher und institutioneller Freiheitsstrukturen. Dieser Abbau hat nach der Euphorie der großen politischen Wende von 1990/1991, als plötzlich eine schier unbegrenzte Liberalität realistisch schien, wie eine böse Schubumkehr zugunsten des Kontrollstaates gewirkt.

Ein Ende dieses Abbaus ist nicht abzusehen, die Terroristen können sich die Hände reiben. Das alles richtet sich zwar gegen sie, aber eben auch gegen den Staat der Freien, der plötzlich nur noch funktionieren kann wie unter einer feindlichen Belagerung. "Mit einem Schlag", so beschreibt ein englischer Anwalt das Gesetzespaket Großbritanniens, "kann die Regierung ganze Städte isolieren, die Medien kontrollieren und Telekommunikationsnetze schließen."

Nichtsdestotrotz: Solange, bis eines fernen Tages durch Aufklärung, Entwicklungshilfe und kluge Außenpolitik Islamisten keinen Grund mehr sehen, ihre Umwelt mit Terror zu überziehen, kann niemand tatenlos zuschauen, wie diese ihr schreckliches Werk verrichten. Je sicherer aber die akute Abwehr, desto stärker gerät das Recht unter Druck. Die Falle ist unweigerlich zugeschnappt.

© SZ vom 9.7.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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