Der Kandidat der Demokraten:Ein Mann für alle Grautöne

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Wer ist der wahre John Kerry? Die Widersprüche des demokratischen Herausforderers sind vielen ein Rätsel.

Von Wolfgang Koydl

Manchmal sieht John Kerry aus wie eine ältere Ausgabe von Ronald Reagan, wenn auch nicht ganz so strahlend wie der Ex-Präsident. Manchmal, wenn er sich unbeobachtet fühlt, stiehlt sich ein glasiger, verlorener Blick in seine Augen, als ob er sie ausgeknipst hätte.

Der Kandidat für das Amt des US-Präsidenten, John F. Kerry. (Foto: Foto: AP)

Dann beginnt er stumm mit seinen mächtigen Kiefern zu mahlen, Wörter vorkostend, bevor er sie wohlmoduliert und bombastisch preisgibt. Bei solchen Gelegenheiten schaltet der Hobbyflieger Kerry, wie das Nachrichtenmagazin Time schneidend anmerkte, wieder den "elitären Autopiloten" ein.

Unlängst bei Larry King machten sich die Kameras eine diebische Freude daraus, Kerry gerade in diesen Momenten ganz genau zu beobachten. Denn wer Präsident werden will in Amerika, wird jede Sekunde von neugierigen Objektiven verfolgt.

"Hör doch auf, mit dir selbst zu reden", beschwor das Online-Magazin Slate fast flehentlich den demokratischen Präsidentschaftskandidaten. "Erspare uns deine inneren Gemütsbewegungen, wenigstens solange die Kameras laufen."

Slate wünscht Kerry allen Erfolg bei der Wahl gegen den Amtsinhaber George Bush im kommenden November, genauso wie die meisten großen und liberalen Massenmedien in den USA.

Doch sie alle tun sich schwer mit diesem drögen, ungeschlachten Hünen, der das Kinn des Talkmaster Jay Lenos, aber nicht dessen Esprit besitzt, und der mitunter so steif und aufgeblasen daher kommt, dass sogar Edmund Stoiber neben ihm wirkt wie ein Zwillingsbruder Thomas Gottschalks.

Fatale Parallelen zu Al Gore erkannte denn auch Tony Coelho, dem 2000 die undankbare Aufgabe zugefallen war, den Wahlkampf eines demokratischen Vizepräsidenten mit der prickelnden Ausstrahlung einer abgestandenen Diät Cola zu leiten.

Auch bei Kerry ringen die Kommentatoren oft vergebens ums rechte aufmunternde Wort. "Er versteht sich gut auf unterschiedliche Grautöne", schrieb die New York Times. Zugleich beklagte sie, dass er bislang "wenig Interesse zeigt, ein bisschen kühner aufzutreten oder selbst in einer unwesentlichen Frage einen unerwarteten oder unkonventionellen Gedanken zu äußern". Dieses durchwachsene Urteil versah die Zeitung dann mit einer Wahlempfehlung für Kerry.

Schwächen des Siegers

Der demokratische Senator aus Massachusetts mag zwar schneller und zielstrebiger auf die Nominierung seiner Partei zum offiziellen Herausforderer Bushs zumarschieren als jeder andere Bewerber. Aber Begeisterungsstürme vermochte er dabei nirgendwo zu entfachen.

Einen "Ritter von der jammervollen Miene, bar jeglicher Vitalität", nannte ihn das bei weitem renommierteste Monatsblatt Amerikas, Atlantic Monthly, das dem Kandidaten Kerry übrigens auch die Daumen für einen Wahlsieg drückt.

"Wenn Kerry im November zum Präsidenten gewählt wird, dann nicht, weil er gewinnt, sondern weil Bush verliert", umschrieb der Washingtoner Journalist Gregory Vistica das Dilemma. "Es gibt so viele Amerikaner, die Bush weghaben wollen, dass sie die Schwächen ihres vermeintlichen Traumkandidaten glatt übersehen."

Bislang freilich strömen zumindest die demokratischen Wähler Kerry in hellen Scharen zu, und auch für den Zehnerpack an Vorwahlen von New York bis Kalifornien am Super-Dienstag, wenn mehr als 1000 Delegierte für den Nominierungsparteitag vergeben werden, gilt er als haushoher Favorit vor seinem einzigen verbliebenen ernsthaften Konkurrenten, dem jugendlichen Senator John Edwards aus North Carolina.

"Die Wähler beeindruckt Kerrys präsidiale Ausstrahlung", vermutet Jim Jordan, der bis zu seiner Entlassung Ende des vergangenen Jahres Kerrys Wahlkampfteam leitete. "Er ist groß, er ist maskulin, er ist ein Mann für ernste Zeiten."

Kantige Gesichtszüge

Manchmal freilich ist er zu ernst, anders als Edwards, der die schauspielerischen und rednerischen Talente eines Anwalts und eines Predigers miteinander zu kombinieren versteht. Selbst Kerrys trotziger Kampfruf an die Adresse von Bush "Bring it on" (Komm du nur her), klingt aus seinem Munde weniger herausfordernd und keck, sondern vielmehr so, als ob er Olympische Spiele eröffnen wolle.

Kein Wunder, dass die New York Times in einem Leitartikel von einem politischen Klon-Experiment tagträumte: "Fast jeder würde sich wünschen, Herrn Kerry und Herrn Edwards zu einem Super-Kandidaten zu verschmelzen."

So weit ist man freilich noch nicht einmal in Amerika, und deshalb werden die Wähler aller Voraussicht nach im Spätherbst die Wahl zwischen Bush und Kerry im jeweiligen Originalzustand haben.

Doch trotz seiner kantigen Gesichtszüge ist der Demokrat dabei wenig greifbar, ja oft widersprüchlich geblieben. Da ist zum einen der Mann mit dem Gehabe eines neu-englischen Patriziers, der einen störenden Hydranten vor seinem Stadthaus in Bostons Millionärsviertel Beacon Hill entfernen ließ und der nicht weniger Spenden aus der Großindustrie einstreicht als George Bush.

Und da ist der Politiker, der in 19 Jahren im Senat bei fast jeder der sechseinhalbtausend Abstimmungen, zu denen er die Hand hob, liberale Positionen vertrat: bei der Abtreibung, bei gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften, bei der Todesstrafe, der Abrüstung und dem Umweltschutz.

Stolz auf die Initialen JFK

Wer aber ist der richtige John Forbes Kerry, der so stolz darauf ist, dieselben Initialen zu haben wie sein Vorbild John F. Kennedy? Ist es der mehrfach ausgezeichnete Leutnant zur See Kerry, der sich freiwillig nach Vietnam meldete, als andere Söhne aus gutem Haus sogar den lauschigen Ersatzdienst bei der Nationalgarde schwänzten, und der seine Kameraden aus dem Kugelhagel der Vietcong rettete? (Kerry erhielt für seine Verwundungen gleich dreimal die Medaille Purple Heart.)

Oder ist es der zornige junge Mann, der nach seiner Rückkehr aus Südost-Asien zum Sprecher der Anti-Kriegs-Bewegung wurde und seine Kameraden bezichtigte, grausame Kriegsverbrechen "nach Art von Dschingis Khan" zu begehen? Schon damals allerdings hielt er sich alle Optionen offen: Derweil seine Kameraden ihre militärischen Auszeichnungen aus Protest gegen den Krieg wegwarfen, schleuderte er nur Ordensbändchen in den Dreck - und die waren nicht seine eigenen.

"Messt mich an meinem Leben", pflegt Kerry seine Zuhörer bei Fragen nach Herkunft und Vergangenheit meist schlicht aufzufordern, und seine sechs Monate Dienst im Dschungel von Vietnam waren ganz gewiss ein Schlüsselereignis in seinem Leben.

Tagebücher aus dieser Zeit zeigen einen empfindsamen, hoch intelligenten jungen Mann. Doch ebenso sicher ist, dass Kerry dem Vietnam-Krieg seine politische Karriere verdankt - angefangen bei seinem ersten medienwirksamen Auftritt vor einem Kongressausschuss in den Siebzigerjahren, der den Grundstein für diese Laufbahn legte, bis hin zum Griff nach dem Präsidentenamt.

Seine heldenhafte Vergangenheit in Vietnam ist der Schutzschild, an dem die Pfeile der Republikaner abprallen sollen, die bisher noch so gut wie jeden Demokraten als wehrunwilligen Schlappschwanz schmähten.

Für seine Wahlkampfauftritte hat Kerry sogar seine eigene Prätorianergarde rekrutiert. Es sind meist Männer in seinem Alter, so um die sechzig. Sie haben hängende Bierbäuche und traurige Schnurrbärte, sie tragen abgewetzte Fliegerjacken und Baseball-Kappen, und keiner von ihnen ist so reich wie Kerry. Aber sie haben alle mit ihm in Vietnam gedient.

Kerry nennt sie seine "Schar von Brüdern", und dies ist nicht die erste Kampagne, in der sie mit ihm übers Land tingeln. Schon bei seinen Senatswahlkämpfen in Massachusetts hatten die alten Kameraden nostalgisch von verflossenen Heldentaten erzählt, wenn sie nicht gerade Veranstaltungen von Gegenkandidaten mit Zwischenrufen störten.

Kerrys getreue "Band of Brothers" erfüllt dabei einen doppelten Zweck. Zum einen wappnen sie ihn mit einem Harnisch, sind sie Fleisch gewordene Zeugen dafür, dass dieser Liberale aus Massachusetts auch etwas vom Kriegshandwerk versteht. Zum anderen verleihen sie dem Multimillionär zumindest ein dünnes Furnier der Arbeiternähe. Denn im Gegensatz zu seinem Rivalen Edwards kann Kerry nicht mit einer harten Kindheit in Armut und Elend punkten.

Sein Vater war Diplomat, seine Mutter entstammte dem Winthrop-Clan und damit feinstem Bostoner Ur-Adel, und John selbst besuchte beste Schulen und die angesehene Yale-Universität. Zweimal heiratete Kerry schwerreiche Erbinnen, was Ann Coulter, das giftblonde Schandmaul unter den konservativen Kolumnisten, zur bissigen Bemerkung verleitete, dass der "Witwentröster" stets "von anderer Männer Geld lebte, indem er ihre Frauen oder Töchter heiratete".

Doch auch die früheren Kameraden können nicht verhindern, dass Kerry mitunter in hochherrschaftliche Allüren verfällt - was der politische Gegner ebenso hämisch wie genussvoll ausschlachtet. Ausgerechnet die republikanische Parteiführung verbreitete lobende Worte, in denen Teresa Heinz Kerry ihren Mann mit einem wohl gereiften Tropfen Wein verglich: "Dann ist er wirklich gut und man kann ihn schlürfen", sagte sie. "Ich glaube, er hat diese Stufe erreicht." Die Rede ist von John Forbes Kerry.

Warum die Republikaner diese auf den ersten Blick unschuldigen Bemerkungen breittreten? Weil sie den Schluss nahelegen, dass die Kerrys elitär am Weinglas nippen statt bodenständig Bier zu trinken oder - wie der fromme Bush - gleich ganz abstinent zu leben. Und Bush würde auch nie, wie Kerry, rosa Schlipse tragen.

In dieses Bild fügt sich, dass Kerry bei einem Wahlkampfauftritt einmal zu einem Philly Cheese Steak - einer geradezu waffenscheinpflichtigen Cholesterinbombe - Schweizer Käse verlangte statt klebrigen amerikanischen Schmelzkäse. So ein Mann, lautet die gar nicht sehr subtile Botschaft, kann kein rechter Amerikaner sein. Ein Wahlkampfhelfer Bushs verstieg sich denn auch zu der in seinen Kreisen ultimativen Beleidigung: Kerry, so meinte er, sehe französisch aus.

In Kerrys Wahlkampfstab kennt man diese Schwächen des Kandidaten, und man weiß, dass all seine innen- und außenpolitische Erfahrung nicht zählen wird, wenn es darum geht, ein negatives Bild auszugleichen, das sich einmal in den Köpfen der Wähler festgesetzt hat. Darum zwingen sie ihren Mann regelmäßig hinter den Steuerknüppel eines Hubschraubers oder auf den Sattel einer Harley.

Sie schicken ihn zum Hockey aufs Eis, drücken ihm die Flinte zur Fasanenjagd in die Hand und verkleiden ihn rustikal zum Treffen mit richtigen Arbeitern am Werkstor. Nicht immer freilich trifft Kerry dabei den rechten Ton. "Das ist voll krass, Mann", beschied er einen ob dieser gequält anbiedernden Wortwahl reichlich verdutzten Arbeiter, der dem Präsidentschaftskandidaten seine beruflichen und privaten Schwierigkeiten geschildert hatte.

Tony Coelho, Al Gores Wahlkampf-Manager, weiß, was Kerry fehlt: ein hohes Maß an Ausgeglichenheit und innerem Frieden. "Das bedeutet nichts anderes, als dass man imstande ist, auf Menschen zuzugehen, sie zu umarmen und irgendwo seelisch anzurühren, anstatt einfach nur immer der Klassenerste zu sein", sagt Coelho. Freilich kennt er auch die Fallstricke, die Kerry ins Straucheln bringen könnten: "Die Gefahr liegt darin, dass es ganz schnell ans Licht kommt, wenn man nicht echt ist."

Anleihe beim Wetter

Das freilich werden die Wähler entscheiden, und bis zum Wahltag werden sie den Kandidaten Kerry besser kennen gelernt haben. Freunde und Gegner warnen übrigens davor, ihn zu unterschätzen. Chuck Hagel beispielsweise, Republikaner, Vietnam-Kamerad und Senatskollege aus Nebraska, hält ihn für alles andere als ein "liberales Leichtgewicht": "Er ist ein gereifter, kluger, harter, redegewandter Wahlkämpfer, der dem amerikanischen Volk ziemlich viel vorweisen kann", meint er.

Großen Respekt zeigt auch John McCain, der republikanische Senator aus Arizona. Mit ihm zusammen hatte Kerry in mühseligen und zähen Verhandlungen mit der kommunistischen Führung in Hanoi nachweisen können, dass sich keine US-Soldaten mehr in Vietnam aufhalten - weder als Kriegsgefangene noch als Vermisste. Diese Einigung legte den Grundstein für die Normalisierung des Verhältnisses zwischen Vietnam und den USA.

Die Demokraten, die des Präsidenten Bush so überdrüssig sind, dass es fast schon schmerzt, halten Kerry für den einzig chancenreichen Kandidaten. Das Argument der Wählbarkeit war es auch, das Kerry bislang von Sieg zu Sieg führte. Doch ob das im November reichen wird? Ein republikanischer Wahlstratege behalf sich mit einer Anleihe aus der Meteorologie. "Mit der Wählbarkeit ist es wie mit dem Wetter in Neu-England", meinte er. "Jeder redet darüber, aber niemand kann es wirklich Monate vorher voraussagen."

© SZ vom 2.3.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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