Der Brexit und die Folgen:Verrat oder Liebe zum Land

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Fünf Kandidaten der Tories wollen David Cameron als Premierminister beerben - sie müssen sich als Brexit-Befürworter beweisen und andere Volten schlagen.

Von Christian Zaschke, London

Jeden Sonntag zieht eine Gruppe britischer Politiker durch die Fernseh- und Radiostudios, um in den zahlreichen Interviewshows der Sender aufzutreten. In ruhigeren Zeiten sind das oft Hinterbänkler, die ihren Auftritt im Licht der Scheinwerfer genießen. Da die Zeiten im Vereinigten Königreich im Moment alles andere als ruhig sind, bestand die Gruppe an diesem Sonntag aus der ersten Garde, sprich: aus jenen fünf Politikern, die sich Hoffnungen darauf machen können, die Nachfolge von David Cameron als Premier anzutreten.

Die Sendungen werden gern für programmatische Äußerungen benutzt, und so war es auch diesmal. Innenministerin Theresa May erklärte, sie wolle auf keinen Fall Neuwahlen ausrufen und außerdem die offizielle Mitteilung über den Austritt gemäß Artikel 50 an die EU nicht allzu rasch abgeben. Artikel 50 des EU-Vertrags regelt den Austritt von Mitgliedstaaten. Zunächst einmal, sagte May, müsse man einen Plan entwerfen. Justizminister Michael Gove versuchte zu erklären, warum er sich so kurzfristig von Boris Johnson abgewendet hatte, dem vormaligen Favoriten auf den Vorsitz der Tories. Er hatte Johnson ursprünglich unterstützt, war dann aber zu dem Schluss gekommen, dass er selbst der geeignetere Kandidat sei. Keinesfalls handele es sich um Verrat, sagte Gove. Er habe vielmehr aus "Liebe zum Land" gehandelt. Im Übrigen müsse der nächste Premierminister jemand sein, der für den Brexit geworben habe. Diese Aussage war gegen May gerichtet, die - wenn auch verhalten - für den Verbleib in der EU war. May sagte: "Die Frage ist nicht, was meine Ansicht vor zehn Tagen war, sondern was ich jetzt tue." Sie werde das Land aus der EU führen, versicherte sie.

Arbeitsminister Crabb betont vor allem, dass er aus einfachsten Verhältnissen stamme

Die Kandidaten, die außer Gove für den Brexit geworben haben, sind der ehemalige Verteidigungsminister Liam Fox, der als chancenlos gilt, sowie Andrea Leadsom, Staatsministerin im Energieministerium. Sie positionierte sich am Sonntag gegen May, indem sie sagte, dass sie Brüssel umgehend nach ihrer Wahl offiziell von der Austrittsabsicht in Kenntnis setze, was hieße, dass die maximal zwei Jahre währende Verhandlungsphase mit der EU bereits im September begänne. Als fünfter Kandidat tritt Arbeitsminister Stephen Crabb an, der vor allem betonte, dass er aus einfachsten Verhältnissen stamme. Klare Favoritin ist derzeit May, die sich die Unterstützung von rund einem Drittel der Tory-Abgeordneten gesichert hat. Von Dienstag an werden die Abgeordneten das Feld in mehreren Wahlgängen auf zwei Kandidaten verkleinern, über die anschließend die Parteibasis abstimmt. Der Sieger wird am 9. September verkündet.

Pro-EU-Demonstranten haben die Statue Winston Churchills vor dem Londoner Parlament mit einem Luftballon geschmückt. (Foto: Neil Hall/Reuters)

In London demonstrieren 40 000 vor allem junge Menschen mit einem "Marsch für Europa"

Galt es zunächst als wahrscheinlich, dass es auf ein Duell zwischen Gove und May hinausläuft, muss der Justizminister nun feststellen, dass es ihm viele Parteifreunde übelnehmen, dass er sich zunächst gegen seinen Freund Cameron stellte und einen Pakt mit Johnson schloss, um diesem dann ebenfalls die Loyalität zu kündigen. Gove gilt in Teilen der Partei als nicht mehr vertrauenswürdig. Das könnte Andrea Leadsom zur gefährlichsten Herausforderin von May machen. Allerdings musste sie am Sonntag erklären, warum sie vor drei Jahren gewarnt hatte, ein Brexit werde ein "wirtschaftliches Desaster" nach sich ziehen. Ihre Antwort: Sie habe sich seither "auf eine Reise" begeben.

Wie sehr das Referendum das Land bewegt, zeigte sich am Samstag wieder, als in London 40 000 vor allem junge Menschen mit einem "Marsch für Europa" demonstrierten. Den EU-Gegnern warfen sie vor, die Wähler mit falschen Versprechen in die Irre geführt zu haben. Der Tenor war: Solange die offizielle Notifizierung in Brüssel nicht erfolgt sei, gebe es Hoffnung. Allerdings haben sämtliche Kandidaten für das Premiersamt zugesagt, sich an das Ergebnis des Referendums halten zu wollen.

Auch Königin Elizabeth II. hat sich an diesem Wochenende geäußert. Das Staatsoberhaupt mischt sich in politische Fragen nicht ein, ihre Worte wurden jedoch als Aufruf zur Besonnenheit gedeutet. Bei einer Rede im schottischen Regionalparlament sagte sie, in Anbetracht der zunehmend herausfordernden Zeiten sei es wichtig, "ruhig und gefasst" zu bleiben. Ein Kennzeichen guter Führung in der schnelllebigen Welt sei, dass sie Raum für "ruhiges Nachdenken und Besinnung" einräume.

© SZ vom 04.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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