"Democracy Lab":Die Republik im Uhrzeigersinn

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(Foto: SZ-Grafik)

An die 3000 Kilometer, zwölf Städte: Beim "Democracy Lab" will die SZ wissen, was den Deutschen wichtig ist. Viele Menschen treibt das Thema Asyl um - sie haben aber Angst, gleich in die rechte Ecke gestellt zu werden.

In Worms war Schluss. Der VW-Bus, Baujahr 1989, blau-grün lackiert, charmant gesprenkelt vom Rost, ausgestattet mit Sonnenmarkise und einer Aura aus Abenteuer und Romantik, wurde immer langsamer. 70 Kilometer pro Stunde auf der Autobahn. Als wir den rettenden Hotelparkplatz erreicht hatten, fragte eine besorgte Passantin, ob wir denn wüssten, dass das Ding qualmt. War es das schon? Dabei gäbe es doch noch so viel zu reden, über Flüchtlinge oder die Schulen, über Frust und Lust und Politik. Drei Städte hatten wir da erst absolviert auf der Deutschland-Tour der Süddeutschen Zeitung. München, Wolfratshausen und Gelsenkirchen, schon am zweiten Tag stand der Bus stundenlang in der Werkstatt. Und jetzt?

"Wir müssen reden!" Das Motto der Tour klebten wir jeden Morgen auf das Gefährt. Insgesamt etwa zwei Dutzend SZ-Redakteure hatten sich, in unterschiedlichen Teams, auf die Reise begeben. Ein "Democracy Lab" sollte es werden in den Wochen vor der Bundestagswahl, auf den Marktplätzen und zeitgleich im Netz, wo Bürger ihre eigenen Wahlplakate gestalten. Das Print-Online-Labor als Experiment für Leser wie Nicht-Leser der SZ, und auch für uns Journalisten.

Es hat funktioniert. Der Vermieter des Busses reagiert nach den Rauchzeichen schnell, macht sich frühmorgens auf den Weg von Oberbayern nach Worms und tauscht das Gefährt aus. Weiterreden. Weiterfahren. Der Bus ist jetzt weiß, Modell T4, hat keine Markise mehr, dafür einen guten Motor. Mannheim, Bremen, Bremerhaven, Frankfurt/Oder, Beeskow, Jena, Ronneburg, Schmölln. Einmal die Republik im Uhrzeigersinn.

"Was macht ihr eigentlich hier?" Ein Mann mit Strohhut, Biobauer von Beruf, will das wissen, er hat uns auf dem Markt in Beeskow entdeckt, das liegt kurz vor Polen. In Zeiten, da zwar viel geredet wird, aber oft sehr ruppig und unversöhnlich, will die SZ direkt von den Bürgern hören, was sie ärgert und freut. Bewusst lassen wir die großen Metropolen links liegen und steuern Städte an, die nicht jeden Tag in der Tagesschau vorkommen. Beeskow zum Beispiel, gelegen im Landkreis Oder-Spree, 8000 Einwohner. Dort erzählt der Bauer mit dem Strohhut, wie gut er die Demokratie findet, dass die Zeit der Abwanderung gen Westen zu Ende sei und viele wieder zurückkämen.

Was muss sich ändern in Deutschland? Über die zentrale Frage im Democracy Lab denken in zwölf Städten Hunderte Menschen nach. Jeden Tag, kurz vor zehn Uhr, wenn wir den Sonnenschirm aufspannen, werden wir beobachtet. SZ-Leser sind über unser Kommen informiert, manche reisen viele Kilometer an, um Punkt zehn auf der Bierbank Platz zu nehmen. Sie sind mitunter akribisch vorbereitet. In Wolfratshausen informiert eine junge Frau über den Mangel an Hebammen, in München plädiert ein Mann für die Abschaffung des Mittwochs, um übers Jahr mehr Wochenenden zu haben. Sie notieren Stichworte, sie argumentieren und fordern. Manche schimpfen, natürlich auch über unsere Zunft. "Erziehungsjournalismus", sagt einer in Jena. Quatsch! Oder?

Asyl ist das wichtigste Thema - doch viele haben Angst, in die rechte Ecke gestellt zu werden

Ein Labor stellt man sich vor als Wirrwarr von dampfenden Kesseln und rauchenden Röhren, aus denen farbige Substanzen quellen. So ähnlich funktioniert auch das Democracy Lab, es liefert Produktives und Unverschämtes, so kunterbunt und durcheinander wie die Republik. Gewiss, es kommen keine Prozentzahlen dabei heraus, das "Labor" arbeitet nicht wissenschaftlich, und doch lässt sich in zwei Wochen der Gemütszustand des Landes erspüren.

Auf Seite eins steht es nur noch selten, aber auf der Straße ist es weiterhin das Thema: Flüchtlinge, Migranten. In Gelsenkirchen vor allem, wo die Fassaden nicht so glänzen wie in München, dominiert es den Diskurs. Einer, schon etwas älter, sagt: "Die Leute reden untereinander darüber, aber nicht offen. Weil sie Angst haben, dass man sie für Nazis hält." Das SZ-Lab ist das Gegenteil von Schweigen. Viele reden offen, verbinden ihre Kritik an der Asyl-Politik aber mit der Bitte, sie nicht gleich in die rechte Ecke zu stellen.

Asyl. Bei keinem anderen Thema kommen die inneren Widersprüche so zum Vorschein. Da beschimpft einer die Schiffs-Retter im Mittelmeer als "SA der Grünen", um eine Viertelstunde später zu betonen, wie stolz er sei, dass Deutschland Flüchtlinge aufnehme, "echte Flüchtlinge". Eine Frau schiebt ihr Rad über den Wormser Obermarkt und sagt, dass es zu viele Ausländer in Deutschland gebe, sie spricht von Bomben und Terroristen. "Ich habe Angst." Ihr Deutsch ist nicht perfekt, sie lebt seit 27 Jahren hier, und nun überlegt sie zurückzukehren. Die Frau stammt aus der Dominikanischen Republik. Hier die Angst, dort die Konkurrenz: Viele fühlen sich angesichts der Hilfe für Flüchtlinge vom Staat benachteiligt. Man müsse mehr für die "eigenen Leute" tun, das hören wir immer wieder. Von hier aus ist es nicht weit zu jenem Thema, das im Wahlkampf als Schlagwort von der "sozialen Gerechtigkeit" daherkommt und nichts mit Migranten zu tun hat. Die Reichen werden reicher, die Armen ärmer. Das führt zu Verdruss.

Im echten Labor dampft es erst dann so richtig, wenn verschiedene Substanzen miteinander reagieren. Im SZ-Lab kommen in den Kessel die Meinungen von Linken wie Rechten, von Alt und Jung. In Frankfurt/Oder beklagen sich zwei Teenager, wie miserabel ihre Schule ausgestattet sei, ein Computer nur, und der sei uralt. Sarah, Kathrin und Alexis, alle drei aus Bremen, notieren: "Wir wehren uns gegen kaputte Schultoiletten." Sie beklagen, dass es in ihrer Schule nur drei Reagenzgläser gebe, und denken an das große Ganze, wünschen sich ein neues Unterrichtsfach: "VadL" nennen sie es, "Vorbereitung auf das Leben". Darin soll es um Buchführung gehen und gute Ernährung, ein Anti-Mobbing-Training sollte dabei sein, und auch was zur Gleichstellung von Schwulen und Lesben. In Bremen verlegt eine Uni-Dozentin ihre Seminarsitzung sogar an unseren Bus, es beginnen zwei Stunden Intensivdiskussion mit 15 Studenten.

Die Forderungen der Jungen an die Politik lauten: Verbessert die politische Bildung für alle! Gebt den Schülern mehr Informationen über die Politik mit! Erklärt besser! Befähigt die Jugendlichen zum Mitreden und Mitgestalten! Das sagen sie in München wie in Bremen. Ein Lehrer aus Mainz, der eigens nach Worms gefahren ist, wünscht sich Demokratiebildung im Lehrplan, denn eines kommt ihm zu kurz: Dass Lehrer ihren Schülern Lust auf Demokratie machen.

Was muss sich ändern in Deutschland? "Alles!", hören wir immer wieder, gerade im Osten. Ändern? Nein, nichts, sagt ein älterer Mann im Vorbeigehen, er verbringt den Sonntag im Mannheimer Luisenpark. "Ich bin mit unserem Land, so wie es ist, zufrieden. Es geht uns gut." Ändern? "Nichts", sagen zwei junge Männer in Jena, "alles ist gut. Wir sind hier angekommen." Sie sind aus Syrien geflohen.

In Frankfurt fragt ein Mann verdutzt: "Ihr wollt wirklich meine Meinung hören?"

Zwischen alles und nichts, zwischen gut und böse kommen viele Themen zur Sprache, nicht neu, aber drängend: Die Sorge um die Rente gehört dazu wie die ums Klima, der Ärger vieler Familien in Ballungszentren, die eine bezahlbare Wohnung suchen. Wir hören große, gewichtige Worte: Freiheit, Gleichheit, Menschlichkeit - viele machen sich Gedanken über das Zusammenleben. Und dann ist da immer wieder der Wunsch nach offener, fairer Diskussion. Viele Menschen hätten das Gefühl, ihre Meinung nicht mehr sagen zu dürfen, meint ein SPD-Mitglied aus Frankfurt/Oder. Nach einem langen Gespräch über Putin, Steuern und Flüchtlinge bittet er, dies zu notieren: "Political Correctness wird zu hoch gehängt. Das verhindert eine offene Diskussion."

Jenseits der politischen Themen ist die Freude darüber zu spüren, dass Journalisten in die eigene Stadt kommen. Die SZ solle öfter rausgehen, ihre Diskurs-Werkstatt intensivieren, größer aufziehen, wünscht sich ein Leser. Ein Mann in Frankfurt fragt überrascht: "Ihr wollt wirklich meine Meinung hören?" Das klingt wie Lob, tatsächlich aber hält uns da jemand, ganz beiläufig, den Spiegel vor. Es ist für viele Bürger nicht mehr selbstverständlich, Journalisten als Gesprächspartner wahrzunehmen, die ihnen auf Augenhöhe begegnen. Dabei ist das so wichtig für eine demokratische Gesellschaft. Die Distanz zwischen "normalen" Bürgern und Journalisten zu verringern, ist einer der Arbeitsaufträge aus dem rollenden "Labor". Es dampft und zischt in der Demokratie, und nach 3000 Kilometern Deutschland ist klar: Wir müssen weiterreden.

© SZ vom 15.07.2017 / SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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