Degler denkt:Profiteure im Leerlauf

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Die bescheidenen Koalitionsgipfel und der Rücktritt des Vizekanzlers offenbaren das wahre Handlungsspektrum der Regierung in der Post-Müntefering-Ära: Blockieren, verschieben, taktieren.

Dieter Degler

Ich weiß ja nicht, was Sie gewählt haben, aber eins kann ich Ihnen sagen - unabhängig davon, ob Ihre Stimme zur Regierungsbildung beigetragen hat oder nicht: Mit der Politik dieser Bundesregierung können Sie kaum zufrieden sein.

Franz Müntefering und Angela Merkel: Statt "Investieren, Sanieren, Reformieren" heißt das Motto der Koalition "Verschieben, Blockieren, Taktieren" (Foto: Foto: AP)

Die innenpolitischen Ereignisse dieser Tage - die euphemistisch Koalitionsgipfel genannten Treffen des Führungspersonals von Union und SPD und der Rücktritt von Franz Müntefering danach - sind bezeichnend für die Art, in der das Kabinett Merkel das Land regiert. Was bei den interfraktionellen Late-Night-Talks herauskam, fügt sich in seiner Dürftigkeit perfekt in die Zwischenbilanz der achten Nachkriegsregierung.

Darf man als Bürger von einer Großen Koalition Großes erwarten? Theoretisch schon. Denn sie verfügt über so bequeme parlamentarische Mehrheiten, dass sie mehr bewegen könnte als fast jede andere Parteienkonstellation.

Andererseits treffen zwei so ungleiche Partner mit gegensätzlichen Programmen aufeinander, dass sich vieles auf den kleinsten gemeinsamen Nenner reduziert, der dann mit einer Politik der noch kleineren Schritte teilweise verwirklicht wird. Und das war auch in dieser Woche die Praxis.

Außenpolitisch aktive Mutter Beimer

Zwar ist sicher mehrheitsfähig, dass die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung demnächst um 0,9 Prozentpunkte sinken sollen. Ob es wirklich klug und nachhaltig verantwortbar ist, wird sich hingegen erst in der nächsten konjunkturellen Delle zeigen. Ansonsten? Längeres Arbeitslosengeld für Ältere: Ja, aber. Postmindestlohn: Nein. Bahnaktien: Nein. Der in Hamburg beschworene neue Kurs der SPD, Beck to the roots (pardon), hat in Berlin zu nichts geführt.

Die Partner blockieren sich gegenseitig, die Sozialdemokraten bleiben im Umfragekeller. Und die CDU, die für kommenden Monat zum Jubelparteitag nach Hannover geladen hat, erfreut sich dank ihrer außenpolitisch aktiven Mutter Beimer der roten Teppiche weiterhin bester Demoskopiewerte.

Dabei bietet, was die merkelgeführte Regierung bislang innenpolitisch geboten hat, wenig Anlass zur Freude. Beispiel Fiskalpolitik: Die unbestritten positivsten Erscheinungen der vergangenen zwei Jahre, das Sinken der Arbeitslosigkeit und die Verbesserung der Haushaltslage, sind erstens kein Produkt der Großen Koalition, sondern der weltkonjunkturellen Dynamik und der Reformpolitik des vorangegangenen Kabinetts. Und zweitens sind die Berliner Profiteure dieser Entwicklung drauf und dran, das Erreichte wieder zu verspielen.

Denn die Zeichen mehren sich, dass die rosigen Zeiten ihren Höhepunkt schon hinter sich haben. Kein Monat vergeht, ohne dass Wirtschaftinstitute, Steuerschätzer und Ökonomiesachverständige ihre Prognosen für die Jahre 2008 und 2009 nach unten revidieren. Und wie heftig die von der Bankenkrise ausgelösten Abschwungwellen noch über die Gesamtwirtschaft hereinbrechen werden, ist noch gar nicht zu ermessen.

Während aber die Wachstumsdynamik der Staatseinnahmen nachlässt, zieht die Ausgabendynamik an. Zur Preisinflation bei Lebensmitteln, Strom, Gas, Öl, Benzin und anderen Sachkosten kommen schon kommenden Monat die Tarifforderungen des öffentlichen Dienstes mit hohen Begehrlichkeiten, wachsende Zinsbelastungen und ausgabenwirksame sozialpolitische Wohltaten, die in Vorbereitung oder bereits beschlossen sind. So sammelt sich eine kritische haushaltspolitische Menge, die im kommenden Abschwung schnell wieder in horrende Defizite münden wird.

Mantra private Vorsorge

In der bereits ahnbaren rezessiven Phase der Weltwirtschaft werden die Lohnzusatzkosten wieder steigen und die Besserung am Arbeitsmarkt wird sich umkehren. Die Ausgaben der noch immer nicht der demographischen Wirklichkeit angepassten Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung werden explodieren - nicht nur wegen der dann wieder steigenden Arbeitslosigkeit, sondern auch wegen jener geburtenstarken Jahrgänge, die in den Jahren nach 2010 in den Ruhestand gehen. Dies wird zur ersten ernsthaften Überlastung der Sozialkassen führen.

Dass deshalb das regierungsamtliche Mantra private Vorsorge heißt, ist als Aussage in der Sache richtig, aber leider nicht mit Inhalt gefüllt. Das Kanzlerin-Versprechen, der sich dem Ende zuneigende Aufschwung müsse bei allen ankommen, ist hohl geblieben.

Die von der SPD in Aussicht gestellte Unternehmensbeteiligung für Arbeitnehmer ist in weiter Ferne, vor der Entscheidung über die Wiedereinführung der alten Pendlerpauschale drückt sich die Regierung, die explodierenden Lebenshaltungskosten machen das Sparen immer schwerer. Und Geschäfte mit Wertpapieren, eine klassische Säule privater Altersvorsorge, werden ab 2009 stärker besteuert denn je.

Beispiel Rechts- und Innenpolitik: Da diskutierten Bundesminister die Einführung eines Feindstrafrechts und die gezielte Tötung von Terrorverdächtigen. Unschuldsvermutung? Nein, danke. Trotz eines eindeutigen Verbots durch das Bundesverfassungsgerichts wollten Bundesminister Passagierflugzeuge über Deutschland abschießen dürfen und das Grundgesetz so lange ändern, bis auch fast jeder Bundeswehreinsatz im Inneren möglich wird.

Hinzu kommen Vorratsdatenspeicherung, Online-Durchsuchungen und sogenannte Konvertiten-Dateien - alles Ideen und Maßnahmen, die jeden rechtsstaatlichen Staatsrechtler auf die Barrikaden treiben müssten.

Innenpolitisches Raushalten

Und so mangelhaft wirkt es bei vielen Themen: Die Umsetzung des Klimaschutzes ist steckengeblieben, die von der EU geforderte Schadstoffminderung bei Autos wird blockiert, das versprochene Umweltgesetzbuch verzögert sich immer weiter. Kinderkrippen für alle warten noch immer auf eine Finanzierung, die Bahnprivatisierung ist auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben, die Pflegeversicherung ist kläglich reformiert und noch immer nicht zukunftsfähig, das Tempolimit auf Autobahnen wird verhindert.

Richtig schnell und einstimmig, der Eindruck bleibt hängen, gingen vor allem zwei Themen über die großkoalitionäre Bühne: Die größte Steuererhöhung in der Geschichte der Bundesrepublik (Mehrwertsteuer von 16 auf 19 Prozent) und die aktuelle Erhöhung der Abgeordnetendiäten.

Das Merkel'sche Motto zum Amtsantritt der Regierung "Investieren, Sanieren, Reformieren" ist zu "Verschieben, Blockieren, Taktieren" verkommen. Und was Merkel-Ziehvater Helmut Kohl mit Aussitzen umschiffte, übersetzt seine Musterschülerin mit innenpolitischem Raushalten, beispielsweise aus dem volkswirtschaftlichen Unsinn des Bahn-Lokführer-Konflikts.

Genau dieser politische Leerlauf, so ist zu fürchten, wird die Ära nach der Zäsur durch Münteferings Abtritt prägen. Die Partner werden sich streiten und wieder vertragen, aber nicht auseinandergehen und wenig, schon gar nichts Großes, bewegen.

Die Union wird alles daransetzen, ihren Umfragesockel von 40 Prozent zu halten, die SPD wird sich ohne den Kärrner Müntefering in der Koalition neu definieren müssen und beim Publikum mit leicht verlinktem Profil versuchen, dem Schicksal einer Splitterpartei zu entgehen. Die Chance für einen glaubwürdigen Ausstieg aus dem quälenden Berliner Bündnis hat sie diesmal jedenfalls nicht nutzen wollen.

Wenn nicht alles täuscht, haben die drei Berliner Oppositionsparteien zwei ergiebige Jahre vor sich.

Dieter Degler ist Publizist und Unternehmensberater und war langjähriger Chefredakteur von Spiegel online .

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