Degler denkt...:Die sieben Lehren von Göttingen

Lesezeit: 2 min

Haben sich die Grünen mit ihrem Afghanistan-Beschluss aus der Politik verabschiedet? Mitnichten, sie kommen gerade erst an.

Dieter Degler

Erinnert sich noch jemand an Petra Kelly? Sie war eine der typischen Gründerinnen der Grünen: Einstiges SPD-Mitglied, Kennedy-Wahlkämpferin, Vegetarierin, Erfinderin der "Anti-Parteien-Partei". Ökologie, Gewaltfreiheit und Menschenrechte waren ihre Kernthemen. Ich war mit ihr befreundet.

Eine gute Politikerin war die erste Parteichefin der Grünen leider nicht, Taktik und Machtorientierung gingen ihr vollständig ab. Sie wollte nicht die bestehenden Strukturen reformieren, sondern durch neue Strukturen ersetzen - im Grünen-Kurzjargon: Sie war ein Irrealo. Und als die Grünen Ende der achtziger Jahre die Realpolitik akzeptierten, geriet sie ins Abseits. 1992 wurde sie von ihrem Lebensgefährten erschossen.

An die Entwicklung von Petra musste ich in dieser Woche denken, als der Grünen-Sonderparteitag über den Bundeswehr-Einsatz in Afghanistan diskutierte. Ist die Partei, wie viele Kommentatoren meinten, dabei, sich wieder von Realität und Regierungsfähigkeit zu verabschieden?

Tatsächlich wirkten die Beschlüsse von Göttingen und die folgenden Interviews bei oberflächlicher Betrachtung, als sei der fundamentalistische Geist der grünen Gründungszeit wieder auferstanden. Raus aus der US-dominierten Operation Enduring Freedom, Nein zu den Tornado-Einsätzen am Hindukusch und notfalls auch Nein zum gesamten ISAF-Bundeswehreinsatz in Afghanistan - natürlich wollte da der Kelly-Erbe Christian Ströbele "diese Basis umarmen", weil sie es der Parteispitze und den Volksparteien nach langer Zeit wieder mal gezeigt habe.

Beginn der Nach-Fischer-Ära?

Doch wenn man genauer hinschaute, waren neben der Unfähigkeit der Obergrünen, ihren Mitgliedern eine mehrheitsfähige Beschlussvorlage zu präsentieren, noch ein paar andere Dinge zu erkennen.

Erstens: Die Partei hat einem in der Bevölkerung - vor allem aber bei SPD und Linken - verbreiteten Unbehagen Artikulation verschafft, nach dem Auslandseinsätze deutscher Militärs fragwürdig sind und gründlicher Diskussion bedürfen.

Zweitens: Die Grünen sind in der Opposition angekommen. Sie nutzen die Freiheit, sich außerhalb des großen Regierungskonsenses zu bewegen und folgen ihren Überzeugungen.

Drittens: Damit einher geht die Emanzipation vom abgetretenen Partei-Übervater Joschka Fischer, der mit der Erfindung der Petersberg-Konferenz Mitinitiator der gesamten Afghanistan-Mission war.

Viertens: Die Grünen haben sich als außerordentlich ernsthafte politische Vereinigung erwiesen. Keine andere deutsche Partei hielt es für nötig, sich so intensiv mit einer derart wichtigen Frage auseinanderzusetzen und dem Thema einen Sonderparteitag zu widmen.

Fünftens: Die Partei hat sich nicht von der Regierungsfähigkeit verabschiedet, nur weil sie eine andere Meinung vertritt als die Koalition. Ganz im Gegenteil: Künftige Koalitionspartner wissen nun noch besser, mit wem sie es zu tun haben.

Sechstens: Die Partei leidet unter einem Machtvakuum. Unter den agierenden Grünen-Granden ist kein Nachfolger von Fischer zu erkennen.

Siebtens: Taktik ist noch immer keine Stärke der Grünen. Der Göttinger Parteitag und seine Wirkung hätten klüger antizipiert und optimiert werden können.

Vielleicht wird Göttingen eines Tages als Beginn einer Nach-Fischer-Ära eingeordnet werden, in der die Rolle der Grünen als Funktionspartei neu definiert wird: Klare Alternative zu den beiden Großparteien, Meinungsführerschaft zwischen Liberalen und Linken, Oppositionspolitik in der Opposition, Realpolitik in der Regierung.

Insofern wäre die Partei gerade erst in der Politik angekommen.

Dieter Degler ist Publizist und Unternehmensberater und war langjähriger Chefredakteur von Spiegel online.

© sueddeutsche.de - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: